Ralf KönigPERRY RHODAN ONLINE CLUB (PROC) HomepageErschienen am:
01.09.2002

Der Weg nach Osten

Was bisher geschah

So war es also, wenn der Tod nicht mehr fern war. Lange hatte er die Zeit betrogen, der Erde vorenthalten, was ihr eigentlich gehörte. Lange Zeit hatte er sich keine großen Sorgen machen müssen. Aber jetzt war ES weg.

Peter Wolf setzte sich in den Sessel seines Hauses am Goshun-See. Seine Hände spielten mit einem unscheinbaren, kleinen Talisman, der ihn fast sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Die Münze schimmerte im Schein der Abendsonne, die durch das Fenster in den Raum schien.

Es war im Jahre 1996 gewesen, als ihm von Perry Rhodan eine große Ehre gewährt wurde. Er brachte ihn nach Wanderer, wo er die Zelldusche erhielt. Er dachte gerne an diese Zeit zurück. Julian Tifflor war damals ebenfalls Teil der Gruppe gewesen. Im Gegensatz zu ihm hatte es Tiff aber weit gebracht.

Die Zelldusche hielt 62 Jahre vor und mußte dann auf Wanderer erneuert werden.

Dies war bisher auch immer geschehen. Bis zum Jahre 2326. Vor wenigen Stunden hatte ihn eine Nachricht von ES ereilt. ES wollte vor einer ungeheuren Gefahr fliehen. Danach war ES auf nimmer wiedersehen verschwunden. Kurz darauf war Wanderer durch einen unlöschbaren Atombrand vernichtet worden.

Er hatte noch von Zellaktivatoren berichtet, die überall in der Galaxis versteckt sein sollten. Rhodan würde sie verteilen, wenn er sie finden würde.

Aber es waren eben nur 25 Zellaktivatoren. Und er konnte sicher sein, er würde keinen bekommen. Dazu war er zu unbedeutend.

Die letzte Zelldusche hatte er 2306 erhalten. Diese würde bis zum Jahre 2368 anhalten.

So lange hatte er noch Zeit. Bis zu seinem Ende. Verdammt, er wollte nicht sterben! Seine Gedanken schweiften ab, in eine Zeit, in der alles erst begonnen hatte. Damals, als er den Mörder seiner Familie gejagt hatte. Damals, auf DEM WEG NACH OSTEN …

1. Regen über Berlin

Die Steine glänzten feucht unter den Straßenlaternen Berlins, dieser großen Stadt im Herzen eines eigentlich fremden Landes, das aber trotzdem ein Teil Deutschlands war. Und schon bald sollte es wieder wirklich zu Deutschland gehören.

Damit dies auch wirklich passierte, waren wir ständig im Einsatz. Nicht nur wir, sondern auch unsere Freunde in Amerika und den anderen Ländern, die zu den sogenannten »Guten« gehörten. Schließlich hatten wir alle den gleichen Feind. Obwohl der das vermutlich anders sah.

Verdammte Kommunisten, dachte ich. Aber schon im selben Moment rief ich mich selbst zur Ordnung. Wenn ich es recht bedachte, waren wir nicht besser als sie.

Und außerdem konnte ich es mir nicht leisten, mir überhaupt Gedanken zu machen. Wenn ich die nächste Zeit überleben wollte, mußte ich lernen überhaupt nicht zu denken, und wenn doch, dann so wie der Feind.

Die Sterne hatten heute Nacht keine Chance. Der Nebel verhinderte, daß überhaupt etwas vom Himmel zu sehen war. Die Nacht war feucht und kalt. Ich hatte Angst.

Die Mauer zu meiner Linken stand erst seit einigen Jahren. Sie teilte eine Stadt in zwei Teile, die seit langer Zeit die Hauptstadt dieses Landes war. Ein Verrückter, der in den dreißiger Jahren versucht hatte, die Welt zu erobern, war eigentlich schuld daran. Aber eigentlich waren es auch diese verdammten Kommunisten, die nichts besseres zu tun hatten, als dieses Land zu vereinnahmen.

Warum verurteilte ich sie überhaupt? Es ging mich nichts an, wer daran schuld war. Ich sollte nur dafür sorgen, daß Voraussetzungen geschaffen wurden, die beide Länder wieder zusammenbrachten. Eigentlich war nicht zu erwarten, daß ausgerechnet mir das gelingen würde. Aber man konnte ja nie wissen.

Ich kam mir vor wie im nächtlichen London. Aber ich mußte mich beeilen, es war schon fünf Uhr morgens und wenn ich nicht bald den Checkpoint erreichte, dann …

Aber da war er ja schon. Gott sei Dank, ich hatte es noch rechtzeitig geschafft.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß ich noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Eigentlich wollte ich so lange gar nicht warten, aber mir blieb nichts anderes übrig.

Ich versteckte mich in einem Hauseingang, von dem aus ich den Übergang im Auge behalten konnte. Ich sah die Wachtposten nur als dunkle Schemen, die in ihrem kleinen, weißen Häuschen mit den großen Fenstern saßen. Die Straße, die links und rechts an dem Übergang vorbei führte, war durch Schranken abgesperrt, die von den Wachtposten geöffnet werden mußten, wenn jemand über den Grenzübergang fahren wollte. Nicht, daß die Schranken sehr stabil waren. Man konnte sie auch mit einem Trabbi durchbrechen, so hießen die Autos, mit denen unsere Brüder da drüben fuhren. Aber wenn man das versuchte, dann würden die Männer in dem Wachturm sofort ihre Waffen von der Schulter reißen, und zu schießen anfangen. Und sterben wollte eigentlich niemand bei der Flucht.

Einige Dutzend Menschen waren seit Errichtung dieser Mauer schon gestorben, als sie versuchten, zu fliehen. Das war eine moralische Rechtfertigung für uns. Schließlich waren wir im Recht, wenn wir diesen Menschen helfen wollten, die ja offensichtlich die Freiheit suchten.

Einer der Männer trat aus der Wachkabine und zündete sich eine Zigarette an. Er lief unruhig zwischen den Schranken hin und her und es sah nicht so aus, als wolle er bald wieder ins Innere verschwinden.

Das erinnerte mich aber an meine eigene Sucht. Ich zog mich weiter in den unbeleuchteten Hauseingang zurück, in dem ich Zuflucht gefunden hatte. Dort zog ich eine Packung dieser scheußlichen russischen Zigaretten aus der Tasche, die ich zur Tarnung mitgenommen hatte. Sie würden reichen müssen, bis ich drüben war. Dort konnte ich dann andere bekommen.

Nervös rauchte ich einen der Sargnägel, dann noch einen zweiten. Die Kippen trat ich aus und versenkte sie in einem Gully, wo sie niemand finden würde.

Dann war es so weit. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, daß es eine Minute vor Halb Sechs war, daher machte ich mich auf den Weg. Ich trat aus dem Hauseingang und ging an der Wand entlang, bis vorne zur Straße. Die Hände hatte ich in den Taschen versenkt und ich blickte vor mich auf das Pflaster der Straße. Meine Angst nahm mit jedem Schritt zu.

Dann hatte ich die Ecke erreicht. Ich blickte zuerst nach links, dann nach rechts. Kein Auto kreuzte meinen Weg, was um diese Zeit wohl auch kein Wunder war. Dann richtete ich meinen Blick auf die Grenzanlage, eine der nur drei Lücken in der Mauer, die diese Stadt trennte. Der Wachposten war stehengeblieben, und musterte mich mißtrauisch.

Ich konnte es ihm nicht verdenken. Wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, wie recht er mit seinen Gedanken hatte. Sicher hielt er mich für einen Spion, dachte darüber nach, was ich wohl vorhatte. Sicher malte er sich in Gedanken schon aus, wie er die Waffe von der Schulter reißen würde, wie er sie in Anschlag bringen und in meine Richtung zielen würde. Sicher überlegte er schon, wie er »Halt, stehen bleiben« rufen und wie dann die stakkatoartigen Garben aus seiner Waffe meinen Körper zerreißen würden. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur Angst. Wie auch immer, von seinem Standpunkt aus betrachtet wäre es wohl das vernünftigste gewesen, was er hätte machen können.

Aber er tat nichts dergleichen, denn er wußte, daß die wenigsten, die an diese Grenze kommen, wirklich Spione waren. Meist waren sie harmlos, aber eben nicht immer. Sicher wünschte er sich ein inneres Radar, das ihm solche Menschen zeigte.

Ich löste mich von der Ecke, und überquerte langsam die Straße, bevor ich mich verdächtig machte.

Dann stand ich direkt vor der ersten Schranke.

Ich ging zu dem Durchgang, der für die Fußgänger vorgesehen war. Der Grenzbeamte erwartete mich schon. Er hatte eine Hand unter den Riemen seiner Waffe gelegt, so, daß er nur einen Griff machen mußte um sie sofort sicher in der Hand zu haben. Die freie Hand streckte er mir entgegen.

»Den Paß bitte«, sagte er. Es klang nicht unfreundlich, aber auch nicht freundlich. Ich schien ihm völlig gleichgültig.

Er schlug das Ausweispapier auf. Mein Foto starrte ihm entgegen, der Paß lautete auf den Namen Hermann Breuer. Ein Name wie Michael Maier wäre zu auffällig gewesen, weil er so unauffällig war, daß er sofort Verdacht erregt hätte.

Trotzdem musterte der Mann mich besonders genau. Ich erwiderte seinen fixierenden Blick und sah erst jetzt wie jung er noch war. Aber er war auch mißtrauisch, das sah ich sofort. Er blickte in den Paß, dann wieder in mein Gesicht. Ich hatte den Blick etwas zur Seite gewandt, so daß er mein Gesicht jetzt im Profil sah.

»Was wollen Sie um diese Zeit schon in der Deutschen Demokratischen Republik?«

Sein Mißtrauen war berechtigt. Andererseits war es so ungewöhnlich nun auch wieder nicht, daß man um diese Zeit über den Checkpoint Charlie wollte. Und wenn ich mich nicht langsam beeilte, dann würde ich noch in den Berufsverkehr kommen.

Aber erst mußte ich an ihm vorbei. Und dann geschah endlich, worauf ich gewartet hatte.

»Ich arbeite dort drüben«, sagte ich.

Dann klingelte das Telefon. Der junge Mann blickte zu seinem Kollegen, der den Hörer abnahm.

»Was arbeiten Sie dort?« Der Junge hatte sich mir wieder zugewandt.

Eine Antwort mußte ich nicht mehr geben. Sein Kollege hatte die Tür geöffnet, und winkte ihm zu. »Komm her, das mußt du dir anhören!«, rief er.

Der Wachposten warf mir noch einen Blick zu, dann schlug er zögernd den Paß zu. Ganz sicher schien er seiner Sache nicht zu sein.

»In Ordnung«, meinte er dann und reichte mir den grünen Paß mit dem Bundesadler wieder zurück.

Ich tippte an meinen Hut und passierte ihn. Ich spürte seine Blicke in meinem Rücken, als ich an der zweiten Schranke vorbeiging, und das Gebiet des Feindes betrat. Meine Angst war jetzt kaum noch zu steigern, meine Schulterblätter schienen sich zusammenzuziehen, während ich jeden Augenblick mit einer Kugel rechnete, die sich in meinen Rücken bohren würde.

»Kommst du jetzt?« rief fordernd der Wachposten in der Kabine.

Endlich hörte ich, wie hinter mir Schritte aufklangen. Dann ging eine Tür und wurde laut ins Schloß gedrückt. Ich atmete auf, aber entspannte mich noch nicht. Schnell entfernte ich mich und ging weiter, bis ich die Straße Unter den Linden erreicht hatte. Nicht mehr weit und ich hatte den Alexanderplatz erreicht.

Natürlich wußte ich, was der Kollege dem Wachposten sagen wollte. Ein Ausbruchsversuch an der innerdeutschen Grenze, und er war gelungen. Aber nur knapp, denn der Sinn dieser Aktion war gewesen, mich in die DDR zu bringen. Zu diesem Zweck hatte einer meiner Kollegen mitten in Berlin einen Versuch unternommen, die Mauer zu überklettern. Dabei geriet er absichtlich einer Wachtruppe in die Hände, die gerade den Todesstreifen patrouillierte. Aber er schaffte es gerade noch ihren Kugeln zu entgehen, denn diese Unmenschen hatten natürlich einen Schießbefehl und dem gehorchten sie. Ich wußte schon, was sie vor Gericht einmal sagen würden. »Befehlsnotstand«, würde ihre Entschuldigung lauten.

Aber bis dahin würde noch viel Zeit vergehen.

Zunächst einmal mußte ich meinen Kontaktmann finden, um meinen Auftrag auszuführen.

Am Alexanderplatz nahm ich eine S-Bahn, die mich in den Stadtteil Köpenick führte. Dort stieg ich mit dem Bus um, bis ich den großen Müggelsee erreichte. Die Schiffe der Weißen Flotte fuhren morgens um sechs noch nicht und im Herbst würde ich vermutlich Probleme haben, überhaupt noch eine Fähre zu finden. Ich ging zu dem Steg, an dem die Schiffe ablegten. Zu meinem Erstaunen mußte ich feststellen, daß die Schiffe trotz des schlechten Wetters noch fuhren. Na ja, schließlich hatten Regenmäntel auch ihre Daseinsberechtigung.

Wie aufs Stichwort begann es zu regnen. Die Tropfen zauberten Kreise auf das Wasser des Sees, der im Sommer wunderschön war. Als Tourist hatte ich die Fahrt über die Seen schon mitgemacht. Auf dem Sonnendeck hatte ich mir einen Sonnenbrand geholt.

Ach ja, die Erinnerung an diese schönen Zeiten malten mir ein Lächeln auf die Lippen. Damals …

Aber diese Zeit war vorbei. Leider würde sie wohl nie wieder kommen.

He!«

Ich fuhr herum, um ein Haar hätte ich in den Ausschnitt meines fast geschlossenen Mantels gegriffen. Die anerzogenen Reflexe ließen mich jedoch verlegen über das Revers streichen, als ich die alte Frau sah, die mit einem Besen vor einer Imbißstube kehrte.

»Woll'n se 'ne Currywurst?«

Erst jetzt nahm ich den appetitlichen Duft wahr. Sie schien bereits ihren Grill angeheizt zu haben, und eine Wurst brutzelte dort vor sich hin. Jetzt schon? Um sechs Uhr morgens? Sie schien meine Gedanken zu erraten, denn sie lächelte.

»Um sieben kommen die ersten Gäste. Ich muß die Würste bis dahin schon einmal anwärmen. Außerdem«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »habe ich selbst Hunger.«

Ich nickte, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie drückte mir ein Pappschälchen in die Hand, in der einige Stücke Wurst in einer roten Soße schwammen. So unappetitlich es aussah, es roch hervorragend. Mit dem Holzstäbchen spießte ich eines der Stücke auf, und verspeiste es.

»Was machen se denn jetzt schon hier draußen?«

Ich versuchte, einen Hintergedanken an ihren Augen abzulesen. Aber da war nichts, und ich schüttelte den Kopf. Ich sah in jedem einen Feind. Aber das war besser als sterben. Oder?

»Ich warte auf einen Freund. Er sollte mich eigentlich hier abholen.«

Sie nickte, dann verlangte sie »'ne Mark fuffzig« für die Wurst. Ich drückte ihr das Geld in die Hand, das bei uns drüben nicht viel Wert war, hier aber genauso hoch gehandelt wurde, wie die D-Mark. Natürlich nur von der Regierung.

Endlich vernahm ich das Tuckern eines Motors. Ein Boot näherte sich dem Steg, legte an, dann erstarb das Geräusch. Schwere Schritte hämmerten auf den Planken des Stegs, dann schob sich ein mächtiger Bauch um die Ecke der Bude. Von meinem Platz aus hatte ich Wasser und Steg nicht einsehen können, so daß ich den Mann erst jetzt sah.

»Hallo, Mia.« Er nickte der Frau zu, die ihn freundlich anlächelte. Unaufgefordert richtete sie eine weitere Wurst her.

Ich musterte den anderen. Tiefe Falten hatten sich um seine Augen und seine Mundwinkel in die Haut gegraben. Er sah alt aus, von Sorgen gezeichnet, aber es war unverkennbar Manfred, sogar sein Bauch war noch genauso dick, wie früher.

»Wie geht's?« Er blickte mich an, wie einen Fremden, aber um seine Mundwinkel zuckte es. Dann nahm er mich in die Arme, und drückte mich an seinen stattlichen Körper.

Ich spürte, wie mir ein Kloß den Hals zuschnürte. Das letzte mal hatte ich ihn in der Sahara gesehen, wo wir einen Trupp Beduinen zurückschlagen wollten. Sie hatten mich für tot liegengelassen und ihn mitgenommen. Meine Freunde vom CIA hatten mich gerettet, sonst hätte der BND einen Agenten weniger gehabt.

Er selbst war von den Beduinen an die Russen verschachert worden, die ihn nach Ostberlin geschickt hatten. Sie hatten versucht, ihn umzudrehen. Dachten wir jedenfalls, bis uns vor einem halben Jahr ein geheimer Kassiber von ihm erreicht hatte. Er wollte fliehen. Seit einem Jahr lebte er in Ostberlin relativ unbeachtet, und sie schienen ihn für einen harmlosen alten Mann zu halten. Das war er auch, wie ich jetzt sah. Aber war er wirklich harmlos? Oder hatten sie eine Falle aufgebaut, deren Köder er war?

Wieviel wußten sie von mir?

Viele Fragen, und keine Antworten. Noch nicht. Aber ich hatte genug Zeit, es herauszufinden. Schweigend standen wir nach der Umarmung da.

Schweigend musterten wir uns.

2. Alter Freund

Er führte mich zu seinem Boot. Als er hinein sprang hatte ich einen Moment lang die Befürchtung es könne im Großen Müggelsee versinken, mit ihm zusammen.

Aber wie durch ein Wunder pendelte es nur einige Zeit hin und her, dann lag es ruhig. Er blickte mich auffordernd an.

Wesentlich langsamer als er kletterte ich in das Boot. Er startete den Motor und schob den Gashebel nach vorne. Kurs Südost, brachte er uns über den See, bis zur Einmündung eines Flusses. Dann verringerte er die Geschwindigkeit und brachte das kleine Boot in die Fahrrinne.

Wundervoll, dachte ich, als die Bäume sich wie ein Dom für einen Moment über uns schlossen. Wieder hatte ich meine Hände in den Taschen des Trenchcoats vergraben und musterte die Bäume, die langsam zurückwichen und Blicke auf kleine Villen freigaben. Das Ufer war nicht länger natürlich, sondern eingefaßt, Bootsstege luden zum Landen ein.

Manfred lenkte das Boot vorbei an allen Stegen, bis er langsamer wurde. Er steuerte einen der Stege an. Dieser Steg gehörte zu einem kleinen Holzhaus, das zwischen den Bäumen undeutlich zu sehen war.

Ich sprang auf den Steg, der leise knirschte. Ich machte mir Sorgen, ob er sein Gewicht überhaupt aushalten würde. Aber das wußte er besser. Ich fing das Seil, das er mir zuwarf und wand es um einen Haken der in dem Holz befestigt war. Kunstgerecht verknotete ich ihn, dann verließ ich schleunigst den Steg.

Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Das Holz knirschte zwar und der Steg schwankte bedenklich, aber er hielt.

Noch immer redeten wir nicht. Worte waren zwischen Freunden, wie wir sie waren, nicht nötig. Uns verband mehr als nur eine Freundschaft. Wir waren Kampfgefährten, die sich schon mehrmals gegenseitig das Leben gerettet hatten. Wir verstanden uns blind.

In der gemütlichen Hütte setzten wir uns an einen Tisch. Ich ließ mich in eine Couch sinken, während er in einen bequemen Sessel sank. Aber zuerst holte er eine Flasche Wodka. Er stellte sie auf den Tisch und schenkte ein. Dann lehnte er sich zurück.

Seufzend ließ er die klare Flüssigkeit im Glas kreisen. Dann trank er es auf einen Zug aus und füllte es sofort nach. Ich tat es ihm nach.

Erst jetzt musterte er mich. »Gut siehst du aus.«

»Du nicht«, antwortete ich.

Er nickte. »Wie bist du damals aus der Wüste entkommen?«

»Sie hielten mich für tot. Der CIA hat mich gefunden.«

»Für mich sind sie zu spät gekommen.«

Es war ein unheimlicher Dialog. Es wurde nicht besser, als er sich nach vorne beugte und weinte. Das hatte er noch nie getan. Und es sagte mir die Wahrheit.

Dieser Mann war vollkommen gebrochen. Er stellte keine Gefahr mehr dar, nicht für mich, und auch nicht für den KGB, oder VEB Greif und Horch, oder wen auch immer. Deshalb wohnte er hier, relativ unbehelligt.

Und deshalb war es gefährlich für mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie ihn nicht mehr bewachten. Und vielleicht hatten sie ihn auch umgedreht. Für den BND würde dieser Mann jedenfalls nie mehr arbeiten.

»Peter?«

Ich blickte auf, als ich meinen Namen hörte.

»Hermann«, sagte ich automatisch. »Hermann Breuer.«

»Ich verstehe«, murmelte er. Dann brach es aus ihm heraus. Er erzählte die ganze Leidensgeschichte seit sie ihn in der Wüste gefangen hatten, wo wir gerade »Willi Böck« jagten, den Topspion des KGBs, der eigentlich im Dienste der Ostdeutschen stand und jahrelang an der Seite von Adenauer gearbeitet hatte. Den Schaden, den er angerichtet hatte, konnte niemand ermessen. Jetzt bleichten seine Gebeine in der Wüste. Kurz nach seinem Tod hatten uns seine Beduinen überfallen.

Die Verhörstuben des KGBs waren schrecklich, soviel wußte ich schon. Wie schrecklich sie wirklich waren erfuhr ich erst jetzt. Haben Sie schon einmal wochenlang unter dem Licht einer nackten Glühbirne geschlafen, während man Sie ständig aufweckt und ihnen Fragen stellt die Sie nicht beantworten können, oder wollen? Und zwar gerade dann, wenn man eingeschlafen war, der Körper für einen Augenblick seine Ruhe hatte, dann jedoch wieder aufgestachelt wurde, mit kaltem Wasser geweckt, mit Stockhieben und Faustschlägen untermalt.

Sie würden das keine zwei Tage durchhalten, denn es ist die Hölle.

Manfred war zäher, aber nachdem sie ihn drei Monate gefoltert hatten, war sein Wille gebrochen.

Er war so gut wie tot, als er erkannte, daß sie eigentlich gar keine Informationen wollten. Sie wollten ihn brechen, denn er war Manfred Hofer, der gefährlichste Spion der Nachkriegszeit. Sie wollten ihn auch nie austauschen. Sie wollten ihn nur kleinkriegen, bis er für sie keine Gefahr mehr war. Ab diesem Zeitpunkt hatte er nichts mehr gesagt, obwohl er noch einiges gewußt hätte.

Sie schickten ihn nach Ostberlin, wo sie ihn drei Jahre lang lückenlos überwachten. Er verhielt sich unauffällig in seiner kleinen Hütte, wo sie ihn festhielten. Dann konnte er eine Nachricht in einem alten toten Briefkasten plazieren, die wir gefunden hatten.

Und nun, fünf Jahre nach der Sahara, saß ich ihm gegenüber.

Hast du wenigstens Nachrichten aus deiner eigenen Welt?«

»Ja, aber auch damit wollten sie mich nur quälen«, fügte er hinzu. »Ich bekomme deutsche Zeitungen. Aus dem Westen.«

Er zeigte mir eine Frankfurter Allgemeine, die ich kannte. Es war die Ausgabe vom 14. November 1970. Eine Schlagzeile hatte vor zwei Tagen alles überstrahlt.

»AMERIKA WILL AUF DEN MOND«, hieß es da. Der Artikel erzählte davon, wie eine Rakete der Amerikaner Mitte des nächsten Jahres unseren Planeten verlassen sollte, um auf dem Mond zu landen. Ich hatte sie für verrückt gehalten, als sie dieses irrsinnige Programm starteten, aber sie waren es nicht. Unserer Abteilung lagen inzwischen Informationen vor, die darauf hinwiesen, daß ein Major namens Perry Rhodan als Kommandant dieser Rakete mit einer Crew von weiteren drei Mann ins All fliegen sollte, um auf dem Mond zu landen.

Aber das half mir jetzt auch nicht weiter. Dieser verrückte Rhodan, der tatsächlich freiwillig die schützende Atmosphäre dieses Planeten verlassen wollte, war weit weg. Und er konnte mir sicher nicht helfen diesen Mann, der immer noch dasaß und mir Horrorgeschichten von KGB-Gefängnissen erzählte, in den Westen zu bringen.

Er blickte mich wieder an, dann sagte er: »Bring' mich heim, Hermann. Bitte.«

Ich war erschüttert. Früher hätte er mich in den Hintern getreten, wenn ich in der Wüste auch nur in die Knie gesunken wäre, um zu verschnaufen. Heute bettelte er mich an, ihn nach Hause zu bringen.

Verdammt. Ich würde es tun. Auch wenn ich verliere, ich werde es versuchen, das hatte ich mir geschworen.

Ich hob langsam das Glas an die Lippen, und stürzte den Wodka hinunter. Er brannte in der Speiseröhre, explodierte im Magen und verbreitete angenehme Wärme. Ah, das tat gut.

Drei Stunden später war die Flasche leer und wir lagen schlafend auf dem Sofa. Saufen konnte er noch wie früher und wenn wir nicht einen klaren Kopf gebraucht hätten, wären wir sicher über seine Wodkavorräte hergefallen, die beträchtlich waren und hätten getrunken bis zum Morgengrauen. Aber das wäre verrückt gewesen.

3. Flucht

Nachts wachten wir auf. Die Sterne durchbrachen die Dunkelheit dieser Mondlosen Nacht, aber trotzdem konnte man fast nicht die Hand vor den Augen sehen. Ich stand im Garten zwischen den Bäumen von Hofers Haus und rauchte eine Zigarette. Wenn wir uns beeilten konnte ich schon bald wieder eine anständige Marke rauchen. In der nächsten Nacht wollten wir verschwinden. Einfach so. Auf nimmer Wiedersehen. Und wenn alles gut ging, waren wir übermorgen im Westen.

Mein Freund trat neben mich und zog wortlos eine Zigarette aus der Packung, die ich ihm hinhielt. Ich gab ihm Feuer, dann blickten wir gemeinsam in den Himmel, wo die Sterne leuchteten.

Den Mond konnten wir nicht sehen, weil Neumond war. Trotzdem brachte ich das Gespräch auf diesen Himmelskörper, als ich leise fragte: »Was hältst du von diesem Rhodan?«

»Wer?«

Ach richtig, er kannte ja seinen Namen nicht. In der Presse war er noch nicht bekannt, eigentlich sollte er erst in einigen Wochen ausgewählt und der Öffentlichkeit präsentiert werden. Also erklärte ich ihm, wer das war.

»Er ist verrückt.«

Schweigend blickten wir den Rauchschwaden unserer Zigaretten nach. Dann gingen wir wieder ins Haus und legten uns ins Bett. Wir wollten soviel wie möglich schlafen, bis es soweit war. Wer weiß, wann wir wieder Schlaf kriegen würden?

Am nächsten Tag kam es zu einem Zwischenfall, als Autos über die Zufahrt kamen. Manfred horchte angespannt und ich bekam wieder Angst, weil ich fürchtete, daß er mich verraten hatte. Dann bückte er sich, und zog an einem Ring im Boden.

»Hier runter«, flüsterte er. »Das ist ein alter Fluchtgang, noch aus dem ersten Weltkrieg. Sie wissen, daß es den Tunnel gibt, aber sie ahnen nichts davon, daß du hier bist. Also verschwinde und komm erst wieder, wenn ich dich rufe.«

Ich sprang in die Dunkelheit und schaute nach oben. Er schloß den Deckel und zog den Teppich wieder darüber. Dann hörte ich, wie die Reifen des Wagens auf dem Kiesweg knirschten. Er hielt an, dahinter noch ein Zweiter.

Über mir rührte sich nichts, dann klopfte es. Stille, dann Manfred: »Wer da?«

»Wer wohl.« Eine unangenehme Stimme, die mir noch mehr Angst machte. In der Dunkelheit wuchs meine Beklemmung und meine Eier lagen wie Steine in meinem Unterleib.

Ich tastete umher und merkte, daß ich in einem kleinen Kellerraum war, dessen Decke aus Holz war. Dann fand ich ein Loch in der Wand. Das mußte der Tunnel sein, von dem Hofer gesprochen hatte.

Ich hatte Angst, als plötzlich Schritte über mir verkündeten, daß Hofer zur Tür ging. Sie knirschte leise, dann weitere Schritte. Mindestens vier Mann. Ich hatte längst meine Waffe gezogen. Acht Schuß in der Pistole. Das mußte reichen, aber ich wollte kein Aufsehen. Und wenn wir sie töteten, dann würde das unsere sofortige Flucht bedeuten. Bei Tag – das war unmöglich.

Ausgerechnet jetzt stieg das Bild einer jungen, schönen Frau vor meinem Auge auf. Ein kleiner Junge mit blonden, krausen Haaren an ihrer Hand, sie lächelte. Für einen Moment vergaß ich alle Sorgen und verzog mein Gesicht zu einem verklärten Lächeln. Dann rief ich mich zur Ordnung. Das Bild verblaßte, aber wie stets, wenn ich in Gefahr geriet, hatte sie mich besucht. Mich an etwas gemahnt, was ich manchmal, aber nicht oft vergaß.

Ich tat das alles nicht, weil es mein Traum war. Ich tat es …

Aber das war nicht wichtig. Sie war tot und nichts konnte sie zurückbringen. Fast hoffte ich, daß sie mich finden würden. Würde ich mich wehren? Oder hatte ich diesmal endlich den Mut, mich erschießen zu lassen?

Meine Gedanken verwirrten sich zunehmend und ich sah mich plötzlich in der Wüste liegen, halbtot, die Reiter ritten davon, verschwammen, wie Schemen, dann Stille. Hubschrauber, eine Stimme. Sie hatten mich gefunden.

Die Bilder schienen in der Dunkelheit zu schweben, aber dann erloschen sie.

Und da war die Angst wieder. Oben polterte es und ich fragte mich, wie lange ich so gestanden hatte. Schweiß stand auf meiner Stirn und brannte in den Augen. Wenn sie mich so gefunden hätten …

… dann wärst du am Ziel.

Die Stimme – ich versuchte sie zu ignorieren. Dann horchte ich gespannt.

Oben wurden Kisten auf den Boden gestellt, jedenfalls hörte sich das Gepolter so an.

»Reicht das?« Die unangenehme Stimme.

»Ja, danke.« So zaghaft hatte ich Manfreds Stimme noch nie gehört.

Dann wurde die Tür geöffnet. Die Männer verschwanden, die Tür fiel zu. Oben war Stille, dann Schritte. Der Teppich wurde zur Seite gerollt. Licht fiel herein, erst nur ein Streifen, dann wurde es hell und ich erkannte die erdigen Wände und das Loch des Tunnels. Über mir war Manfreds Gesicht, ich erkannte eine Treppe, eher eine Leiter, die mich aus dem Loch befreien würde. Ich blickte in Manfreds Augen. Ich war erleichtert. Er hatte mich nicht verraten. Noch nicht …

Die Dunkelheit war hereingebrochen, es war eine kalte, klare Nacht. Der Mond war nirgends zu sehen, immer noch war Neumond. Schwärzer würde die Nacht nicht mehr werden, also zogen wir die Tore einer alten Scheune auf, in der ein Trabbi stand. Das Auto sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber Manfred versicherte mir, daß es uns sicher bis zur Grenze bringen würde.

Es war kurz vor Mitternacht und ich wollte in zwei Nächten an der Ostsee sein. Dort würde uns ein Schiff erwarten. Ein Mann namens Alfred Andersch hatte einmal einen Roman namens »Sansibar – oder der letzte Grund« geschrieben; auch dort ging es um eine Flucht. Unsere würde hoffentlich reibungsloser gelingen.

Der Wagen wollte zuerst nicht anspringen, aber dann röhrte der Zweitakter auf. Zuerst konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich das Geratter hörte. Wie ein Rasenmäher, so dachte ich, aber ich hatte schnell keinen Grund mehr zu lachen. Hofer blickte mich von der Seite an, und fragte, ob ich bereit sei.

»Bereit«, antwortete ich.

Er legte den Gang ein, stotternd setzte sich der Wagen in Bewegung.

Schweigend fuhren wir aus der Stadt Berlin und wandten uns dann nach Norden. Die Nacht verschluckte uns, die blauen Dämpfe des Treibstoffs waren unser einziger Begleiter.

Ich war angespannt, aber ich hatte keine Angst.

Bis uns das erste Auto der Polizei begegnete. Nervös blickte ich auf den Wagen, der am Straßenrand stand, uns aber nicht beachtete.

»Suchen sie uns schon?«

»Kaum.« Manfred schien die Ruhe selbst, aber das schien nur so. Er hatte sich noch fast so gut im Griff wie früher, aber jetzt zitterte seine Unterlippe. Als uns ein Auto entgegenkam und uns blendete, konnte ich es sehen.

Er riß sich zusammen und fuhr weiter.

Gegen drei Uhr löste ich ihn am Steuer ab. Er setzte sich auf die Rückbank und war sofort eingeschlafen. Ich bewunderte ihn dafür, denn ich wußte, daß er die gleiche Angst hatte, wie ich. Aber er war schon immer der bessere Agent von uns beiden gewesen. Die alten Instinkte brachen durch.

Ich fuhr so schnell es ging und als der Morgen dämmerte, waren wir an einer Ortschaft namens Neubrandenburg vorbeigekommen. Die Landschaft war topfeben, doch wir fanden ein Versteck. Ich zog eine Karte aus meiner Innentasche und gab sie Manfred.

Er lotste uns zu einer Wiese. Kurz dahinter begann der Wald. Ich fuhr über den Feldweg bis ich den Wald erreichte. Unter Ästen versteckten wir das Auto und brachen die Tür einer alten Jagdhütte auf. Ulbricht persönlich war schon hiergewesen, aber sein Nachfolger Honecker hatte sie aufgegeben. Sie war ein ideales Versteck, vergleichbar mit der Höhle des Löwen.

Manfred zog eine Flasche aus der Jacke und reichte sie mir. Ich trank einen Schluck und gab sie zurück. Wir wechselten uns ab.

Wir sind schon schöne Agenten, dachte ich. Eigentlich sollten wir nicht trinken, denn wenn wir die Flasche leer hatten, konnte uns ein kleines Kind überwältigen. Aber wir hatten beide Angst und diese klare, scharfe Flüssigkeit half.

Wenigstens etwas, was diesen Unmenschen gelungen war, dachte ich.

Wir schliefen abwechselnd, nach der Flasche Wodka besonders gut. Es war kalt, die Hütte hatte keine Fenster mehr und wir wickelten uns in unsere Mäntel.

Als es dunkel wurde, wurde es noch kälter. Wir trugen unsere Mäntel, und liefen in dem engen Raum herum, um uns aufzuwärmen. An Schlaf war nicht mehr zu denken und Mitternacht erst in einigen Stunden. Dann wollten wir weiterfahren.

»Jetzt wissen sie schon, daß ich weg bin.«

»Woher weißt du das?«

»Sie kommen jeden Freitag in die Hütte. Das ist der Termin, den ich weiß. Sonst kommen sie, wann sie wollen.«

Ich nickte, dann lief ich weiter. Sie würden nach ihm fahnden. Hoffentlich hatten wir Glück.

»Vermißt du sie noch?«

»Wen?« fragte ich, obwohl ich wußte, wen er meinte. Er sagte auch nichts, sondern beobachtete mich nur unter seinem Hut hervor.

»Ich denke immer noch an sie«, gab ich zögernd zu.

Er nickte. Er wußte, daß er nichts sagen mußte. Er konnte mich nicht trösten, niemand konnte das.

Sie waren vor fünfzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Es war ein roter Golf und sein Fahrer hatte getrunken. Ich blickte feindselig auf die Flasche, die wir am morgen getrunken hatten.

Aber das war nur die halbe Geschichte. Er war auch Agent – besagter Willi Böck, der nach einem Einsatz in Westdeutschland nach Hause fuhr, an die innerdeutsche Grenze. Dabei war ihm meine Familie im Weg. Es war tatsächlich ein Unfall und damals wußte ich noch nicht, wer der Fahrer war. Aber in dieser kleinen bayrischen Stadt, in der der BND residierte, hatten sie mich aufgeklärt. Seither jagte ich ihn, zehn lange Jahre hatte es gedauert, dann hatten wir ihn. Manfred und ich, damals, in der Wüste.

Und seither hatten wir uns nicht mehr gesehen.

»Sein Tod hat dir nichts genützt.«

Ich antwortete zuerst nicht.

Dann blickte ich ihm in die Augen.

»Du hast mich damals zum BND geholt. Warum?«

Er schüttelte den Kopf. Ich bestand aber darauf, daß er es endlich sagte.

Zögernd zündete Manfred eine Zigarette an. »Du wolltest ihn. Mehr als jeder andere. Meistens sind Menschen, die Rache wollen, in unserem Beruf nicht zu gebrauchen, aber bei dir war es etwas anderes. Du warst schon vorher ein Spürhund, ein Plattfuß, der Verbrecher jagte. Du hattest einfach die besten Voraussetzungen.«

»Du irrst dich. Ich wollte seither nichts anderes, als sterben. Ich habe in jedem Einsatz den Tod gesucht.«

Er lächelte nur. »Ich weiß. Hast du jemals gezählt, wie oft ich dir das Leben rettete? Ich tat es nur, weil ich dich noch brauchte.« Das Lächeln wurde grausam, aber nur einen Moment. »Ich mochte dich von Anfang an. Deshalb habe ich dich ausgewählt, mir zu helfen. Ich habe davor immer allein gearbeitet.«

Für einen Moment stand der alte Manfred Hofer vor mir, stolz, kalt und gefährlich. Ich fror plötzlich. Und ich mußte ihn einfach fragen, obwohl ich wußte, daß er mir sowieso nicht die Wahrheit sagen würde.

»Hast du mich verraten? Werden sie uns heute verhaften?«

»Nein.« Mehr sagte er nicht und ich glaubte ihm. Verdammt, ich wollte ihm glauben.

Aber ich zuckte jedesmal zusammen, wenn ein Auto über die Straße fuhr.

Schweigend standen wir uns in der Hütte gegenüber, wie Feinde, aber ich wußte plötzlich, er war mein Freund. Selbst wenn er mich verraten hatte, hatte er es nicht mit Freuden getan. Und immer noch wußte ich nicht, ob sie kommen würden.

Der Trabbi sprang erst beim dritten mal an und diesmal fuhr ich zuerst. Wieder auf der Straße versuchte ich, die ganz kleinen Straßen zu vermeiden, aber auch nicht auf zu großen zu fahren. Wenn sie uns wirklich suchten, würden sie auf großen Straßen genauso warten, wie auf kleinen. Letztendlich konnten sie aber nicht alles überwachen. Ein Leben ohne Risiken gab es in diesem Beruf nicht. Wenn man das suchte, musste man etwas anderes werden.

Niemand begegnete uns.

Um drei Uhr löste er mich ab.

Einige Stunden vor der Dämmerung waren wir am Ziel.

Eine kleine Halbinsel, ein Haff, oder eine Nehrung erstreckte sich in die Ostsee. Sie nahm ihren Anfang in der Nähe von Stralsund und reichte weit ins Meer hinein. Von seiner äußeren Spitze aus hätte man nach Rügen schauen können, wenn es heller gewesen wäre.

In der Nacht hatte ich ein Signal über ein kleines, leistungsstarkes Funkgerät ausgestrahlt und jetzt warteten wir. Wir blickten auf das Wasser, immer auf der Suche nach einem Schiff. Letztendlich würden wir es nicht zu sehen bekommen. Dieses Schiff kam unter Wasser. Es war ein U-Boot der Marine, das uns abholen wollte.

Aber es war noch nicht da und ein Blick auf meine Uhr bestätigte mir, daß das ganz normal war. Es war fünf Uhr und es würde noch eine Viertelstunde dauern, bis es soweit war.

Manfred zog wieder einen Wodka aus der Tasche, unsere letzte Flasche. Wir tranken abwechselnd. Als die Flasche halb leer war, war es drei Minuten vor dem Zeitpunkt an dem sie kommen sollten.

Aber sie kamen nicht. Noch nicht. Dafür kam jemand anders.

Ich fühlte den weichen, kalten Sand unter meinen Händen, als ich meine Position verlagern wollte. Dann hörte ich ein Auto. Ich fuhr herum und sah mit Entsetzen den Jeep der Armee der DDR, der NVA, der über die Dünen hüpfte und auf uns zu schwankte.

Ich stieß meinen Freund an und musterte ihn in wilder Panik. »Hast du …?«

Er schüttelte ängstlich den Kopf und streckte abwehrend die Hände aus. Niemals, schienen seine Augen zu sagen, ich könnte dich nicht verraten.

Aber warum ausgerechnet jetzt?

Der Jeep hielt an, einer der Männer stand auf. Er hatte uns gesehen, und begann nun zu schreien. Er gestikulierte wild, dann winkte er in unsere Richtung. Ich stand wie versteinert, bis mich Manfred anstieß. Dann lagen wir hinter dem Trabbi im Sand, der seine Aufgabe gut erfüllt hatte. Jetzt würde er uns als Deckung dienen.

Die ersten Kugeln aus der Maschinenpistole hatten den Sand dort aufgewirbelt, wo wir eben noch gestanden hatten. Ich zitterte, als ich die Sandfontänen sah, und wartete auf einen Effekt, den ich mir in langem Training angeeignet hatte. Eine eiskalte Ruhe überkam mich und einen Moment lang fühlte ich mich wie James Bond, jener britische Supergeheimagent, der seit Anfang der sechziger Jahre die Welt von allen Bösewichtern, vor allem den Russischen, befreien wollte. Zumindest im Film. Und im Film würde ich mich jetzt bedeutend wohler fühlen, wenn ich wusste, dass die Schüsse nicht echt, die Fontänen lediglich ein raffinierter Effekt waren.

Ich wartete auf meine Chance, als der Jeep immer näher kam.

»Kommt 'raus!« Die Stimme des Soldaten zerriß die Stille des Morgens, die bisher nur vom Rauschen des Meeres gestört worden war.

Ich nickte Manfred zu, der sofort richtig reagierte, als er meine Waffe sah.

Er stand auf und hob die Hände. Als die Waffe des Soldaten auf ihn schwenkte, brach ich auf der anderen Seite hinter dem Auto hervor, und schoß sofort. Meine Kugel riß seinen linken Unterarm auf, die zweite explodierte mitten in seinem Gesicht. Er kippte schreiend aus dem Jeep.

Der andere ließ erschrocken das Mikrophon fallen, dann hob er die Hände.

»Sie werden gleich da sein«, zischte er haßerfüllt.

»Das macht nichts«, sagte ich mit einer Ruhe in der Stimme, die mir selbst nicht echt erschien. »Bis dahin sind wir weg.«

Ich sagte das mit einer Zuversicht, die ich gar nicht hatte. Auch Manfred warf mir einen fragenden Blick zu.

Ich nahm dem Soldaten die Waffe ab und bedeutete ihm, auszusteigen. Er gehorchte und legte sich dann auf meinen Befehl hin mit dem Gesicht auf dem Boden in den Sand.

Dann warteten wir. Inzwischen war es zwanzig Minuten nach fünf und ich blickte nervös über die glatte See, die nur vom Wind aufgerührt wurde, nicht aber von einem Unterseeboot der deutschen Marine.

Da kam ein weiterer Jeep, offensichtlich die Verstärkung, die über Funk angefordert worden war. Diese Erkenntnis nützte uns nichts. Offenbar hatten sie meine Schüsse über Funk gehört, denn sie feuerten sofort auf uns.

In diesem Moment durchbrach in wenigen Kilometern Entfernung der Turm eines Unterseebootes die Wasseroberfläche. Die Luke des Turmes öffnete sich und einige Soldaten wollten ein Schlauchboot präparieren, mit dem sie uns abholen würden. Es hätte zu lange gedauert. Manfred und ich rannten auf das Wasser zu, als eine Maschinenpistole eine Spur von Fontänen über den Strand zog, die geradewegs auf den unverletzten Soldaten zuhielt, der noch immer mit dem Gesicht nach unten im Sand lag. Sie nahmen keine Rücksicht.

»Lauf!«, brüllte ich dem Mann zu. Ich sah gerade noch, wie die Kugeln in seinen Leib schlugen. Er schrie, bäumte sich auf und sackte dann regungslos zusammen. Für Erschütterung hatte ich keine Zeit. Ich stürzte mich ins Wasser.

Die Fluten schlugen über uns zusammen, als wir einige Schritte ins Meer gerannt waren und uns dann kopfüber unter die Oberfläche stürzten. Ich hörte nichts mehr, sondern tauchte um mein Leben.

Als ich meinte, mir würden die Lungen zerrissen, tauchte ich auf. Ich blickte zum Strand, der einige Dutzend Meter hinter mir lag und sah den Kopf Manfreds über dem Wasser einige Meter näher am Strand.

Die Soldaten sprangen gerade aus dem Auto. Einer bückte sich nach seinen toten Kameraden, während der andere uns unter Feuer nahm.

Ich tauchte wieder und als ich wieder auftauchte, sah ich, daß Manfred mir nicht gefolgt war. Ich schwamm zurück, das Feuer ignorierend. Der Soldat schoß erbärmlich, er lag zwar mit seinen Schüssen in unserer Nähe, aber er traf nicht. Wahrscheinlich war die Entfernung zu groß. Hoffentlich.

Ich griff Hofer unter den Arm und zog ihn, rückwärtsschwimmend, mit mir.

»Was ist?« fragte ich.

»Mein Bein«, stöhnte er. Sie hatten ihn getroffen. Diese Schweine.

Bisher hatte ich genug Adrenalin in den Adern, um die Kälte nicht zu spüren. Ich fürchtete um mein Leben und auch um das meines Freundes, und spürte daher nicht, wie kalt das Wasser war. Aber mit wachsender Entfernung zum Ufer wurde dieser Schutz immer schwächer.

Die Kälte sprang mich an wie ein Raubtier. Aber ich kämpfte dagegen an und zog meinen Freund immer weiter.

Verbissen blickte ich über die Schulter und sah das U-Boot immer näher kommen. Dann waren plötzlich Taucher im Wasser. Als sie das Feuer der Soldaten gehört hatten, hatten sie ihr Schlauchboot wieder eingepackt und dafür die Neoprenanzüge angelegt. Als sie mich erreichten war ich nahe daran aufzugeben. Ich hatte kein Gefühl mehr im Körper, immer noch Todesangst und war müde. Ich wollte aufgeben, wollte nur noch schlafen …

Aber da war immer noch mein Freund, ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Er war bewußtlos, lag ohne Regung in meinen Armen. Ich kämpfte weiter.

Dann eine Hand. Die Taucher griffen nach mir und zogen meinen Freund aus meinen Armen. Ich hörte auf mich zu bewegen und ließ mich von zwei Mann zum Schiff ziehen.

Als wir das Boot erreichten zogen sie zuerst Manfred auf den kalten Stahl des Bootes, dann mich. Zwei stützten mich und wir humpelten zu einer Leiter, die auf den Turm führte. Ich versuchte es allein und schaffte es, meine steifen Glieder auf den Turm zu ziehen. Oben drehte ich mich um. Die Soldaten luden gerade die beiden Toten in die Jeeps, dann stieg jeder in eines der Fahrzeuge. Einer warf noch einen Blick auf das Meer, dann waren sie verschwunden.

Ich seufzte erleichtert, als mir klar wurde, daß wir in Sicherheit waren. Dann verließ mich das Bewußtsein.

4. Erinnerungen

Ich erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Als ich die Augen aufschlug musterte ich verwundert die stählerne, gewölbte Decke über mir, bis mir einfiel, daß ich in dem U-Boot war und damit in Sicherheit.

Erleichtert seufzte ich auf, zuckte aber sofort zusammen, als der Schmerz in meinem Kopf erneut zuschlug.

Ein Gesicht tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich kannte ihn nicht, aber er trug eine Uniform der Bundeswehr mit den Abzeichen eines Oberstabsarztes.

Wenigstens etwas, dachte ich.

»Wie fühlen Sie sich?« Die Stimme war nicht unangenehm.

»Miserabel«, krächzte ich mit einer Stimme, die ich kaum als meine eigene identifizieren konnte. »Oh, mein Kopf«, stöhnte ich.

»Hier.« Der Arzt hielt mir eine Tablette hin, die ich mühsam als Aspirin erkannte. Ich schluckte das kleine, runde Ding, das schmerzhaft in meinem Hals steckenblieb, aber von dem Wasser, das er mir reichte, weggespült wurde.

»Sie haben einige Erfrierungen. Wie kann man nur auf die Idee kommen, im November in der Ostsee zu baden? Das Wasser hat keine 5 Grad!«

»Haha«, machte ich, um wieder schmerzhaft das Gesicht zu verziehen.

»Wie schlimm?« wollte ich wissen.

»Es geht.« Was für ein Doktor! »Jedenfalls nichts, was nicht wieder in Ordnung kommt.«

Und damit hatte er recht. Es sollte zwar einige Monate dauern, aber ich war bald wiederhergestellt. Vorübergehend war ich aber aus dem Verkehr gezogen.

Die Diesel des Schiffes stampften fühlbar, als das U-Boot Kurs auf Bremerhaven setzte, wo sie uns von Bord bringen wollten. Ich wartete geduldig in der Koje, die in der engen Krankenstation lag. Aber gegen die Träume konnte ich nicht ankämpfen und auch der Arzt konnte mir dabei nicht helfen.

Die Träume – ich hatte sie seit fast zwei Jahren nicht mehr und hatte sie auch nicht vermißt. Jetzt überfielen sie mich stärker als jemals zuvor. Die Begegnung mit meinem alten Freund hatte dafür gesorgt, daß einige Dinge nach oben gespült wurden, die ich schon vergessen glaubte.

Erinnerungen an eine Zeit vor fünf Jahren, in der wir diesen Menschen zur Strecke gebracht hatten, der die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens bestimmt hatte. Ich wollte nicht mehr an ihn denken, aber ich wußte, daß ich eine Menge Zeit haben würde, in der ich mich in Gedanken wieder mit ihm vertraut machen konnte. Der einzige Glücksfall war wohl, daß nun Manfred bei mir war.

Aber ob das wirklich ein Glück war, mußte sich erst noch herausstellen.

Ich schlief wieder einmal ein, wie sehr oft auf dieser Fahrt nach Bremerhaven, die aber insgesamt nicht so lange dauerte, wie es mir vorkam.

Jedenfalls erreichten wir nach einiger Zeit, die ich mehr wie in Trance erlebte, als wirklich bewußt, den Hafen. Sie holten uns aus dem Bauch des stählernen Ungetüms und brachten uns in einen Krankenwagen.

Unserer Reise führte durch ganz Deutschland, glücklicherweise den Westen. Sie endete in einem Krankenhaus im Süden dieses Landes. Lange blieben wir allerdings nicht dort.

Nach wenigen Tagen entließen sie uns aus der Klinik an der Isar in München. Wir wurden abgeholt von einem Auto, das uns in ein Büro des BNDs brachte. Dort erfuhren wir, daß sie einen langen Urlaub für uns geplant hatten. Mehrere Monate sollten wir uns aus allem heraushalten, erst Ende des nächsten Jahres war mein nächster Einsatz geplant. Manfred würden sie während dieses Urlaubs erst einmal überprüfen. Er könnte ja ein Sicherheitsrisiko sein.

Unser nächster Weg brachte uns nach Hause.

Da Manfred keine Wohnung hatte, nahm ich ihn mit zu mir. Ich hatte ein Haus in der Nähe von Ulm, das wir aufsuchten. Wir gedachten, uns eine schöne Zeit zu machen, alte Erinnerungen auszutauschen und ab und zu einen zu heben. Ein schöner Plan.

Leider wurde es keine schöne Zeit. Meist verbrachte ich die Zeit mit Nachdenken. Was geschehen war, ließ sich nicht so leicht vergessen.

Vor fünfzehn Jahren …

Ich hatte schon von dem Unfall erzählt. Damals war ich in ein Loch gefallen, ich wußte einige Wochen lang nicht mehr, wer ich war, trank zuviel und verlor meinen Job. Aber im Nachhinein kam es mir vor wie eine Fügung des Schicksals. Es wollte, daß ich meinen Beruf als Kriminalbeamter verlor und es wollte, daß ich diesem Manfred in die Arme lief, der mich seither beobachtete.

Meine Frau – ich hatte fünf wunderbare Jahre mit ihr verbracht, die mir rückblickend viel zu kurz erschienen. Sie hatte mir einen Sohn geschenkt, einen kleinen Jungen mit blonden Haaren, der mir fast noch mehr bedeutete als meine Beziehung zu diesem Mädchen. Beides wurde mir an diesem Tag genommen, als ein Agent der DDR, der für den KGB spionierte, betrunken beide überfuhr. Mein kleiner Junge war sofort tot gewesen, um das Leben meiner Frau hatten sie noch tagelang gekämpft. Leider hatten sie diesen Kampf verloren. Aber diese Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflung würde immer die Schlimmste in meinem Leben bleiben.

Ich schüttelte den Kopf, bis andere Bilder vor mir auftauchten. Dann war Manfred plötzlich da. Damals kannte ich ihn noch nicht, aber das sollte sich bald ändern. Er hatte mich beobachtet und einen Moment abgewartet, an dem er mich ansprach. Ich war damals gerade soweit, daß ich den gemeinen Mörder zum Teufel wünschte und alles getan hätte, um seine Abreise zu beschleunigen. Als Manfred mir die Gelegenheit bot, griff ich sofort zu.

Sie bildeten mich die nächsten drei Jahre aus, bis ich nicht nur schießen konnte, sondern auch sonst alles, was ein guter Agent können muß. Dann übertrugen sie mir meinen ersten Fall, der mich hinter den eisernen Vorhang nach Ungarn führte. Dieser erste Einsatz kostete drei feindliche Agenten ihre Tarnung und sorgte dafür, daß ich schnell berühmt wurde – natürlich nur innerhalb des Geheimdienstes. Nach drei weiteren Einsätzen hatte ich einen Ruf wie besagter James Bond, der gerade erst seine ersten Einsätze auf der Leinwand bestritt.

Das hört sich an wie ein Märchen. Es hatte aber für mich nichts Märchenhaftes, ich lebte in dieser Zeit nur mit dem Gedanken an eine Rache, die mir Manfred versprochen hatte. In all den Jahren, die mir große Erfolge gebracht hatten, hatte Hofer einen Mann rund um die Welt gejagt, den er mit meiner Hilfe endgültig zur Strecke bringen wollte. Und deshalb war ich im Jahre 1964 nach Rußland eingeschleust worden. Ich sollte ihn finden, was mir aber nicht sofort gelang. Wie sollte ich schaffen, was ein Mann, der der Beste des BND war, innerhalb von fast zehn Jahren nicht geschafft hatte?

Über diesen Gedanken schlief ich ein.

Ich wanderte durch die verschneiten Straßen einer Stadt im Herzen der Sowjetunion. Moskau war kalt, wie im Januar nicht anders zu erwarten. Ich ging durch einen Park, der im Herzen dieser großen Stadt lag. Ich sollte einen Mann treffen, der beim CIA unter dem Codenamen ADLER registriert war. Dieser Mann saß im Kreml, direkt an der Seite des Generalsekretärs. Er war der Willi Böck der Amerikaner.

Er sollte Informationen über diesen Agenten haben, die wir noch nicht kannten. Deshalb ging ich nun über den verschneiten Weg einer Stadt, die ich nur durch gute Karten kannte.

Der ADLER saß auf einer Parkbank. Er hatte eine Tasche neben sich stehen und las in einer Zeitung. Es war die Prawda. Ich setzte mich neben ihn und stellte meine Tasche neben die seine. Beide sahen gleich aus, aber seine enthielt wichtige Informationen, während meine nur mit einer Zeitung gefüllt war.

Ich saß fünf Minuten lang neben dem Mann, der mich nicht beachtete. Dann schlug der ADLER sorgfältig seine Zeitung zu und faltete sie. Das Papier verschwand in der Tasche seiner Jacke, er stand auf. Seine Hand griff nach einer der Taschen. Es war meine, dann verschwand er mit langsamen, schlurfenden Schritten in Richtung Roter Platz, um an seinen Arbeitsplatz im Kreml zurückzukehren.

Ich wartete einige Minuten, dann griff ich nach seiner Tasche. Ich klemmte sie mir unter den Arm und ging zurück zu meinem Auto, das außerhalb des Parks am Straßenrand stand. Die Tasche landete auf dem Beifahrersitz, wo sie zunächst unbeobachtet blieb.

Durch die Straßen Moskaus versuchte ich, meine Unterkunft in einem Hotel zu erreichen. Aber dann änderte ich meine Pläne.

Bei einem Blick in den Rückspiegel war mir ein Auto aufgefallen, das ich schon mehrfach gesehen hatte. Es war ein unauffälliger Wagen. In Moskau fuhren viele die gleiche Marke, das Fahrzeug hinter mir war ein schwarzer Wolga. Es roch geradezu nach KGB.

Vorsichtshalber hielt ich in der Nähe einer U-Bahn-Station. Ich stieg aus dem Wagen, verschloß ihn sorgfältig und lief mit der Tasche langsam und mit gesenktem Kopf auf den Eingang zum Bahnsteig zu. Der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Als ich den Eingang erreicht hatte, drehte ich mich um.

Der Wagen hatte in der Nähe meines eigenen angehalten. Die beiden Männer waren ausgestiegen und kamen auf mich zu.

Kein Zweifel – sie hatten es auf mich abgesehen.

Ich betrat die Treppe. Als ich um die erste Biegung kam, machte ich einige schnelle Schritte und versuchte unauffällig zu verschwinden. Leider mißlang der Versuch. Als die Männer um die Ecke bogen, sahen sie mich und nahmen sofort die Verfolgung auf.

Ich gab jede Zurückhaltung auf. Ich rannte zum Bahnsteig und warf mich in einen Zug. Glücklicherweise fuhr er an, als ich den engen Raum betreten hatte. Die beiden Männer schlugen wütend gegen das Fenster, hinter dem sie mich sahen. Für einen Moment sah ich die Augen eines der Männer, sah die Wut in ihnen aufblitzen. Dieser Mann haßte mich und vor allem die Idee, für die ich kämpfte.

Ich erschrak, denn ich verstand, daß sie letztendlich dieselben Gefühle hatten, wie ich. So verschieden waren wir gar nicht.

Leider standen wir auf verschiedenen Seiten. Und ich wußte, daß meine Seite die richtige, die Seite der Freiheit war. Wenn ich diese Überzeugung jemals aufgeben würde, dann wäre ich verloren. Davor hatte ich Angst.

Aber ich durfte mich nicht von meinen Gefühlen verunsichern lassen. Sicher hatten die beiden Agenten schon ihre Kameraden alarmiert und wenn ich nicht schleunigst aus dem Zug verschwand, dann würden sie mich an einer der nächsten Stationen erwischen.

Kaum war der Zug zum Stillstand gekommen, verließ ich ihn. Ich stieg in einen anderen ein, der in eine andere Richtung fuhr. Nach zwei Stationen stieg ich aus und fuhr zurück.

Drei Stationen weiter wechselte ich wieder die Richtung. Dann gab ich das Versteckspiel auf.

Ich fuhr in den Norden der Stadt, wo ich ein Taxi nahm. Der Fahrer erhob keinen Widerspruch, obwohl der Himmel bleigrau war und nach Schnee aussah. Auch ich wollte nicht in einen Schneesturm geraten, aber wenn der Taxifahrer die Fahrt machte, konnte ich darauf vertrauen, daß ein Sturm noch fern war. Schließlich mußte er danach auch wieder in die Stadt fahren.

Auf einem Parkplatz verließ ich den Wagen. Ich bezahlte den Mann, der sofort nach Moskau zurückfuhr. Dann ging ich auf der Straße in unserer ursprünglichen Fahrtrichtung weiter, bis der Wagen außer Sicht war.

Als die Rücklichter um eine Kurve verschwanden, schlug ich mich in den Wald. Ich zog einen Kompaß aus der Tasche, um die Richtung nicht zu verlieren. Ständig schlugen mir Äste ins Gesicht, Schnee rieselte auf meinen Hut und versuchte, unter meinen Mantel zu gelangen. Ich kämpfte mich durch das dichte Gehölz.

Endlich erreichte ich einen verschneiten Feldweg. Der Weg war überfroren, aber das hinderte mich nicht, ihn zu benutzen. Von hier aus kannte ich den Weg.

So schnell wie möglich bewegte ich mich über den Weg. Nach einigen Kilometern erreichte ich endlich eine kleine Hütte, die im Wald versteckt war.

Ich ging ins Innere, verschloß die Tür und heizte erst einmal ein. Die Tasche wanderte unbeachtet auf einen Tisch, bis der enge Raum einigermaßen warm war. Dann setzte ich mich an den Tisch und öffnete der Verschluß.

Im Innern befand sich ein kleines Notizbuch. Es enthielt die wichtigsten Informationen, die der ADLER gesammelt hatte. Die meisten interessierten mich nicht. Sie waren für unsere Sicherheitsabteilung und vor allem für den CIA viel interessanter.

Das einzige, was für mich wichtig war, fand ich fast am Ende der Aufzeichnungen:

»Willi Böck versteckt sich im Gebiet der Asiatischen Föderation.«

Endlich eine Spur. Ich verschloß die Augen und drückte die Hände dagegen. Eine Spur des Feindes, der Deutschland so sehr geschädigt hatte und mich wahrscheinlich noch mehr, als mein Land. Ich haßte ihn. Und jetzt würde ich ihn finden. Nicht mehr lange …

Stöhnend erwachte ich. Der Alkohol, den ich am letzten Abend genossen hatte, hatte mir nicht sehr gut getan. Ich nahm ein Aspirin und machte mir einen starken Kaffee. Als ich aus der Tasse trank versuchte ich den Traum der vergangenen Nacht abzuschütteln. Natürlich kannte ich alles, was ich geträumt hatte. Dieses Abenteuer in Rußland spielte sich im Jahre 1964 ab, im Januar. Ich hatte endlich eine Spur gefunden, die mich zu Willi Böck führen könnte. Was sie mir nützte, wußte ich damals noch nicht.

Ich floh aus der Sowjetunion, indem ich den Weg über Finnland nahm. Die Informationen überbrachte ich Hofer, der das Notizbuch an den CIA weiterleitete. Die Informationen über Willi Böck hatte er vorher kopiert.

Wir wußten, wo wir ansetzen mußten.

Die Träume der folgenden Nächte führten mich wieder in jene Zeit zurück.

5. Asien

Das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen war einschläfernd. Ich lehnte im Polster des Zuges, der durch die ganze Sowjetunion fuhr. Die Transsibirische Eisenbahn sollte uns bis in den Osten dieses riesigen Landes bringen, eine Stadt die Irkutsk hieß war unser Ziel. Dann wollten wir mit dem Auto an die Grenze zur Mongolei fahren, diese überqueren und den Verbrecher dann auf dem Gebiet der Asiatischen Föderation stellen.

Bis Irkutsk war es nicht mehr weit, nur noch wenige Dutzend Kilometer und wir hatten die erste Etappe unserer weiten Reise geschafft.

Unsere Waffen hatten wir im Gepäck versteckt, die Koffer hatten einen doppelten Boden, der mit allerlei streng geheimen und weniger geheimen Wunderwaffen gefüllt war. Hoffentlich konnte uns das Zeug helfen, den Mörder meiner Familie zu stellen.

Wütend ballte ich die Fäuste, dann entspannte ich mich bewußt wieder.

Hofer, der mir gegenüber saß, war ganz ruhig. Er lehnte im Sessel, hatte seine Hände über seinem damals schon gewaltigen Bauch gefaltet und schnarchte leise vor sich hin.

Ich wußte, daß ich eigentlich auch schlafen sollte. Wir würden uns in den nächsten Tagen durch das Hochland der Mongolei kämpfen, und es war sicher nicht sehr klug vorher nicht zu schlafen. Aber ich konnte meine Gedanken nicht steuern. Ich dachte an den Menschen, der mein Leben so dramatisch verändert hatte.

Langsam löste ich mich davon, versuchte mich zu entspannen, was mir auch zögernd gelang. Dann sank ich noch etwas tiefer in die Polster, und schloß die Augen.

Endlich. Nach wenigen Minuten hatten mich die ewig gleichen, eintönigen Geräusche diese Zuges sanft in den Schlaf gewiegt.

Einige Stunden später erwachte ich fröstelnd. Einer der Passagiere hatte das Fenster des Zuges geöffnet, der Wind pfiff herein und es war bitterkalt geworden. Als ich die Augen öffnete, sah ich Manfred am Fenster stehen. Er atmete tief ein und inhalierte die kalte Luft. November 1964 in einer der sowjetischen Teilrepubliken, im Nordosten dieses Landes – sicher können Sie sich vorstellen, wie kalt es war.

Ich sah mich im Abteil um – niemand war in dem kleinen Raum, außer uns beiden. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und stellte mich neben den Freund. Es gab keine bessere Möglichkeit, aufzuwachen, als diese kalte Luft.

Als das Fenster geschlossen war, waren wir so wach, wie man nur sein kann.

Mit quietschenden Bremsen hielt der Zug auf dem Bahnhof von Irkutsk. Wir hatten unsere Mäntel angezogen, einen Rucksack auf dem Rücken und den Koffer in der Hand. So sprangen wir aus dem Wagen und verließen das Gelände. Einer der Agenten des CIA erwartete uns bereits. Er führte uns zu einem Wagen und brachte uns aus der Stadt.

Ein Jeep, der sorgfältig in einer Scheune versteckt war, erwartete uns. Mit ihm sollten wir über die Grenze fahren. Welchen Weg wir nehmen sollten, erklärte uns der Agent. Er gab uns eine Karte, auf der der Weg markiert war. Gleichzeitig gab er uns die Zeiten, zu denen die Grenzbeamten am Zaun patrouillierten. Sie würden uns nicht erwischen, wenn wir uns genau an die Zeiten hielten.

Der Motor röhrte auf, als Hofer den Schlüssel drehte. Wir gaben dem Mann die Hand und fuhren aus der Scheune. Schweigend verbrachten wir die Zeit im Wagen, bis wir im Wald waren. Die Grenze lag nur noch drei Kilometer vor uns, als wir anhielten. Hier wollten wir zwei Stunden warten. 21 Uhr Ortszeit – es würde dann bereits dunkel sein. Niemand würde uns sehen.

Während wir in der Kälte saßen und auf den richtigen Moment warteten ging unser Freund, der Agent, der uns den Wagen gegeben hatte, zurück zu seinem Haus. Im Haus wurde er von zwei Männern empfangen, die ihn mit ihren Kalaschnikovs zwangen seine Waffen abzulegen. Der Mann lieferte seine Pistole ab und hob die Hände. Seine unerwünschten Besucher herrschten ihn auf russisch an, wo die beiden Agenten abgeblieben seien. Unser Mann schwieg. Ein Gewehrkolben bohrte sich in seinen Magen, er klappte zusammen.

»Rede!«

»Niemals«, keuchte unser Freund.

»Das werden wir sehen!«

Sie zogen ihn hoch. Der Mann wußte, was ihn erwartete und er zog die einzig mögliche Konsequenz. Er stieß einen der Männer von sich, schlug dann die Waffe des anderen zur Seite und sprang zur Tür. Ein Schuß krachte. Wie vom Blitz getroffen stand der amerikanische Agent an der Tür, die Klinke in der Hand. Dann ging er in die Knie. Ein Blutstrom quoll aus seinem Mund, er fiel auf sein Gesicht. Als die beiden feindlichen Agenten ihn erreicht hatten, war er schon tot.

»Idiot!« zischte einer der Männer. »Wie sollen wir jetzt erfahren, wo die beiden hin sind?«

Zerknirscht blickte der andere zu Boden. Der eine schlug wütend gegen die Tür, zog dann ein Funkgerät aus der Tasche und alarmierte die Grenzwachen.

Wir ahnten nichts von diesen Vorgängen, während wir in dem Wagen warteten. Plötzlich hörten wir Hundegebell. Ein Blick zur Uhr zeigte, daß es gerade erst 19 Uhr dreißig war. Wir blickten uns an. Eigentlich sollten die Wachen erst um acht Uhr kommen. Was war schiefgegangen?

Lautlos glitten wir aus dem Wagen, und das war gut so. Wir hatten gerade genug Zeit, hinter einigen Bäumen zu verschwinden, als aus dem Wald zwei Männer in Uniform mit deutschen Schäferhunden traten.

Wie passend, dachte ich bissig. Ich blickte zu Manfred, der auf der anderen Seite steckte. Der Freund hatte ruhig seine Waffe aus dem Halter unter der Achsel gezogen, und schraubte gerade den Schalldämpfer auf. Ich griff nach der Waffe in meiner eigenen Tasche, als die Soldaten plötzlich zu rufen begannen. Sie hatten den Wagen entdeckt.

Was machten sie überhaupt hier? Sie hatten eigentlich hier nichts verloren, ihr Streifenweg verlief weiter südlich. Hatte man uns schon entdeckt?

Nervös griff ich in die Tasche und tastete nach dem Schalldämpfer. Im ersten Moment dachte ich schon, ich hätte ihn verloren. Dann hielt ich den kalten Stahl plötzlich in der Faust. Ich brauchte drei Versuche, bis ich ihn aufgeschraubt hatte, während Hofer schon auf die beiden Männer wartete.

Zitternd blickte ich um den Baum herum und sah die Männer, die eben einen der Rucksäcke von der Ladefläche des Jeeps zogen. Als Manfred nickte, überkam mich ein vertrautes Gefühl. Ich schien innerlich zu erstarren, dann überkam mich eine unnatürliche Ruhe. Mein trainierter Körper hatte das Kommando übernommen, mein Geist ordnete sich ihm willig unter.

Ich nickte zurück und sah, wie Hofer aus seiner Deckung wirbelte. Ein Schuß ploppte aus der Waffe des Freundes und schlug genau in die Stirn des einen Wachpostens. Der andere wollte sich umdrehen, sah aber eine Bewegung im Wald. Ich hatte mich von dem Stamm gelöst und legte an. Die Waffe zuckte kurz in meiner Hand, der Schuß löste sich. Tödlich getroffen sank der Mann zu Boden.

Die Hunde wollten sich auf uns stürzen, aber sie waren kein Problem. Ein weiterer Schuß aus jeder Waffe, die Hunde sanken zuckend in den Schnee, der sich langsam rot färbte. Einer winselte noch leise, dann regte auch er sich nicht mehr.

Hofer zog die Kalaschnikov von der Schulter des einen und gab mir einen Wink. Ich begriff und nahm die andere Waffe. Dann fuhren wir los.

Ich hatte beide Waffen auf dem Schoß, während Hofer fuhr. Nach zwei Kilometern lag der Zaun vor uns, ein einfacher Maschenzaun mit Stacheldraht, der oben abgerollt war.

Mitten darin befand sich eine Tür, die mit einer Kette samt Vorhängeschloß gesichert war. Kein offizieller Übergang, aber gerade deshalb für uns geeignet.

Von links und rechts erschallten Rufe, während Hofer beschleunigte. Ich stand auf und hielt mich an der Windschutzscheibe fest. In der anderen Hand hatte ich die Waffe des Soldaten, entsichert und auf Dauerfeuer gestellt.

Rechts brach einer der Soldaten aus dem Gestrüpp und hob seine Maschinenpistole. Bevor er schießen konnte, hatte ich die Waffe geschwenkt und den Abzug gedrückt. Die Kugeln schlugen rechts und links von ihm in den Schnee, zogen eine Blutspur über seine Brust. Ich sah gerade noch seinen überraschten Gesichtsausdruck, er sank nach hinten. Dann ließ ich mich in das Polster des Sitzes fallen.

Der Kühlergrill zerriß die Kette, die das Tor verschloß, als sei sie aus Papier. Die Flügel der Türen wurden zurückgestoßen, die Räder drehten kurz durch, gruben sich tief in den Schnee, dann senkten sich die Rohrgestelle mit dem Maschendraht. Der Weg war frei, unser Jeep fuhr mit aufheulendem Motor über die Grenze.

Hinter uns versammelten sich die schreienden Männer. Sie eröffneten das Feuer und einige der Kugeln pfiffen verdächtig nahe um uns herum.

Wir zogen die Köpfe ein, Hofer lenkte den Wagen schnellstmöglich um eine Biegung. Dann wurde er etwas langsamer.

Plötzlich brach ein Mann aus dem Gestrüpp. Er trug die Abzeichen der Asiatischen Föderation und legte seine Waffe auf uns an. Ich reagierte blitzschnell, erhob mich während der Fahrt und schoß über den Kopf des Freundes hinweg. Meine Kugeln erwischten ihn. Er warf die Arme hoch und ging in die Knie, dann hörte die Waffe in meinen Händen auf, Kugeln zu spucken. Leer.

Ich warf sie aus dem Wagen und griff nach der anderen Maschinenpistole.

Aber niemand versuchte uns mehr aufzuhalten.

Aufatmend lehnte ich mich zurück.

Die Karten hatten uns sicher über die Berge geführt.

Während der Fahrt hatte ich eine unserer Maschinenpistolen aus dem doppelten Boden des Koffers geholt und sechs Magazine vorbereitet. Ich hatte immer zwei zusammengeklebt, die ich dann, wenn eines leer war, nur umdrehen mußte. Zwei dieser Doppelmagazine lagen vor mir im offenen Handschuhfach, eines steckte in der Waffe.

Ich hatte die Wache übernommen, löste aber nach sechs Stunden Fahrt den Freund ab.

So bewegten wir uns über die Berge der Mongolei und näherten uns immer mehr unserem Ziel.

Nach den Bergen kam die Wüste. Die Gobi erwartete uns mit ihren kalten Temperaturen des Winters, ihren öden Geröllfeldern und Hügelketten. Bajan-Chongor war das letzte Bergdorf gewesen, das wir umfahren hatten.

Immer wieder mußten wir einen der Kanister von der Ladefläche nehmen, um den Tank nachzufüllen. Hoffentlich würde der Treibstoff reichen.

In den Bergen lebten wir in der Angst, von einem der wilden Bergstämme überfallen zu werden. Aber glücklicherweise war das nie der Fall. Jedenfalls bis kurz nach Bajan-Chongor. Dann verließ uns das Glück.

Das Wiehern eines Pferdes ließ uns aufhorchen. Wir waren mittlerweile sehr müde, nachdem wir eine Nacht durchgefahren waren. Wir wollten noch zwei weitere Nächte durchfahren, bevor wir das erste Mal unser Zelt aufschlugen.

Ich hatte auf dem Beifahrersitz geschlafen, als mich Manfred mit einem Ellbogenstoß in die Seite weckte. Als ich die Augen aufschlug, waren die ersten Reiter schon um die Biegung geritten. Ich riß die Waffe hoch, die ich noch auf Einzelfeuer eingestellt hatte und eröffnete das Feuer. Die erste Kugel ging in die Luft.

Als die vermummten Gestalten das Feuer erwiderten, schoß ich gezielt. Der erste der Männer fiel vom Pferd. Manfred gab Gas.

Der Wagen machte einen Satz und jagte auf die Pferde zu. Die Männer stoben zur Seite, um uns auf der engen Bergstraße aus dem Weg zu gehen. Ich hatte mittlerweile auf Dauerfeuer geschaltet und schoß in die Menge hinein. Drei der Leute fielen vom Pferd, aber auch zwei der Tiere gingen in die Knie.

Die Bergnomaden schossen noch immer. Das Glas der Windschutzscheibe hatte sich bereits in ein spinnwebenartiges Gebilde verwandelt. Ich löste die Verriegelung und stieß die Scheibe nach vorn. Glas splitterte, als das Fenster die Motorhaube berührte.

Eine Kugel zupfte an meiner Jacke und hinterließ eine glühende Spur auf meinem Arm. Ich achtete nicht darauf.

Dann waren wir endlich durch. Ich hatte das erste der Doppelmagazine schon umgedreht. Ungefähr die Hälfte der Kugeln dieses neuen Magazins waren verschossen, als die Krieger die Pferde wendeten und in den Bergen verschwanden.

Ich lehnte mich zurück und spürte erst jetzt die Schmerzen der Kugel, die meinen Arm verletzt hatte.

Nachdem wir endlich die Ebene der Wüste erreicht hatten, hielten wir an.

»Du bist verletzt«, stellte Hofer nach einem Blick auf meine verkrampfte Haltung fest.

Ich biß die Zähne zusammen und nickte. Dann schüttelte ich den Kopf. »Es ist nur ein Kratzer.«

Meine Stimme zitterte. Ich war nicht zum ersten Mal in Lebensgefahr, und Kugeln hatten mich schon oft umschwirrt. Auch verletzt war ich schon gewesen. Aber mit einem Jeep durch die Berge der Mongolei zu fahren, nur das Rauschen des Windes und das Geräusch des eigenen Motors zu hören und dann plötzlich wie aus dem Nichts überfallen zu werden, das alles zerrte an meinen Nerven. Ich hatte Angst und wollte nach Hause.

Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Langsam wich der Druck von mir. Dann legte ich den Mantel ab und zog den Wollpullover aus. Hofer desinfizierte die Wunde und verband sie. Er drückte mir eine kleine Flasche in die Hand. Ich trank und verzog das Gesicht. Der Whiskey war scharf, aber er belebte mich wieder.

Die Verletzung war nicht so schlimm, also löste ich den Freund am Steuer ab.

Der Wagen rollte an, keine zehn Sekunden später verriet mir leises Schnarchen, daß der Freund eingeschlafen war. Schmunzelnd lehnte ich mich zurück. Die Karte war vor mir auf einem Klemmbrett, das am Lenkrad befestigt war. Ein Kompaß half mir, die Richtung einzuhalten. So machten wir uns daran, die Gobi zu durchqueren.

6. Goshun-See

Keine weiteren Zwischenfälle störten unsere Reise, bis wir ungefähr 800 Kilometer weiter südlich auf einen kleinen See stießen. Er war in der Karte als Gasuun Nuur bezeichnet, was soviel wie Goshun-See bedeutet.

Als wir an seinem Ufer hielten, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht erklären konnte.

Verdammt, wir hatten einen kleinen, völlig unbedeutenden See mitten in der Wüste erreicht, den keiner kannte. Wieso sollte ich ausgerechnet hier das Gefühl haben, daß der Ort noch für Großes vorgesehen war?

Ich dachte nicht weiter darüber nach, weil es mir unwichtig erschien. Wichtig war nur, daß wir Wasser hatten. Wir wollten hier übernachten und zum ersten Mal unser Zelt aufbauen.

Wir sprangen aus dem Wagen und errichteten das Zelt. Ein kleiner Campingkocher sorgte für Wärme, während er gleichzeitig eine Suppe erhitzte. Wir aßen schweigend, dann sprachen wir die Vorgehensweise der nächsten Tage ab. Unser Ziel war eine kleine Stadt südlich von hier. Sie hieß Jiu-quan. Laut ADLERs Informationen sollte diese Stadt der Zufluchtsort von Willi Böck sein. Der nächste Morgen würde uns also in die Höhle des Löwen bringen. Die Stadt lag ungefähr 300 Kilometer im Süden, wir würden sie also noch im Laufe des Tages erreichen. Was wir dann tun sollten, wußten wir noch nicht.

Erst einmal legten wir uns schlafen.

Und ich träumte. Ich sah einen Mann vor mir. Hochgewachsen, war sein Kopf mit einem Funkhelm bedeckt. Seine Augen waren grau, er hatte eine kleine Narbe an der Nase. Er trug einen merkwürdigen Anzug, der mich an eine Uniform erinnerte.

Dann zoomte das Bild zurück und ich sah, daß der Mann vor dem Hintergrund einer großen Stadt stand. Ich hatte diese Stadt noch nie gesehen.

Plötzlich sprang mir der Mann wieder entgegen. Die merkwürdige, bewegliche Kamera, die mir diese Bilder zu zeigen schien, umkreiste den Mann und zeigte mir seinen Rücken.

Ich erschrak, als ich die riesige Kugel sah, die vor dem Mann aufragte. Einen Teil der Beschriftung konnte ich erkennen. Da stand … UST II. Eine Rampe führte ins Innere des Schiffes, der Mensch stand direkt davor.

Das Bild verblaßte. Dafür sah ich nun einen spindelförmigen Flugkörper, der mitten in der Wüste, an jenem See, an dem auch wir uns befanden, auf der Seite lag. Mehrere Männer kamen aus seinem Inneren, darunter auch der Mann den ich gerade vor dieser merkwürdigen Kulisse gesehen hatte.

Sie redeten einige Zeit miteinander, ohne daß ich verstehen konnte, was sie sagten. Dann gingen die meisten wieder in den Flugkörper, während der eine Mann dastand und in die Sonne blinzelte. Erst jetzt bemerkte ich, daß er amerikanische Abzeichen trug. Es war ein Major, der eine seltsame Uniform trug. Sie sah aus wie ein Raumanzug.

Der Mann löste langsam die Abzeichen von seiner Schulter und warf sie in den Sand.

Dann wandte auch er sich um.

Das Bild verblaßte erneut. Als es wieder klar wurde, konnte ich den Flugkörper wieder sehen. Ein unsichtbarer Schirm schien ihn zu umgeben. Sehen konnte ich ihn, weil einige Explosivgeschosse auf seiner Oberfläche auftrafen und in einem Feuerball vergingen. Sie schienen mitten in der Luft auf ein Hindernis zu treffen.

Die gleichen Menschen wie vorher bewegten sich unter dem Schirm. Sie schienen keine Angst zu haben. Erst jetzt fiel mir ein Mann auf, den ich vorher gar nicht gesehen hatte. Er war großgewachsen, hatte weißes Haar und rote Augen. Auch er trug einen Raumanzug, aber mit Abzeichen die ich noch nirgends auf der Erde gesehen hatte.

Als ich mich auf ihn konzentrierte verschwamm das Bild.

Wieder ein Bild, der Mann mit den grauen Augen. Er blickte mich an, legte mir eine Hand auf die Schulter. Dann drehte er sich um und wies mit einer ausholenden Handbewegung auf die Häuser vor uns. Hinter uns war wieder der See.

Als er sich mir wieder zuwandte, bemerkte ich einen Turm hinter ihm. Erst bei näherem hinsehen erkannte ich das spindelförmige Gebilde wieder. Diesmal stand es, war aber viel länger.

Auf seiner Hülle stand ein Name: STARDUST. Es sah aus wie ein Denkmal.

Dann verblaßte das Bild wieder. Aber diesmal stabilisierte sich kein neues. Ich erwachte und richtete mich mit klopfendem Herzen auf. Ich keuchte, als ginge mir die Luft aus. Meine Hand preßte sich auf meine Brust. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, dann trat ich vor das Zelt, wo Manfred immer noch Wache hielt.

Nichts von allem, was ich geträumt hatte, war da draußen. Ich schüttelte den Kopf und erzählte dem Freund nichts davon. Nach einem Schluck aus seiner Flasche wollte ich wieder ins Zelt, um weiter zu schlafen.

Plötzlich war da ein Knall. Sand wirbelte vor den Füßen des Freundes auf, dann ertönte eine Stimme.

»Weg mit den Waffen!«

Der Mann sprach chinesisch. Manfred gehorchte auch sofort und warf die Maschinenpistole fort.

Ich hob nur die Hände und wartete. Es dauerte nicht lange, da standen die Soldaten vor uns. Sie klopften uns ab und nahmen unsere Handpistolen an sich. Einer fand das Messer im Stiefel meines Freundes, aber ein Messer, das an meinem Rücken befestigt war, fanden sie nicht. Es war so angebracht, daß ich es mit einem Griff über die rechte Schulter sofort in der Hand hatte. Leider nützte mir die Waffe momentan nichts, unsere Gegner waren in der Überzahl. Außerdem hatten sie die besseren Waffen.

Sie durchwühlten unsere Ausrüstung. Die Waffen im doppelten Boden des Koffers fanden sie, aber wir hatten noch einige Überraschungen im Gepäck, von denen sie nichts ahnten. Sie grinsten und bedeuteten uns, einzusteigen.

Manfred mußte unseren Jeep fahren, während einer der Männer neben ihm Platz nahm. Seine Maschinenpistole zielte unmißverständlich auf den Agenten des BND und ließ keinen Zweifel daran, was geschehen würde, wenn er auf dumme Gedanken käme.

Mich ließen sie mitmarschieren. Außer Hörweite hatten sie einen Lastwagen abgestellt. Sie ließen mich auf die Ladefläche des Mannschaftstransporters klettern, dann fuhren wir los. Mindestens zehn Mann saßen um mich herum, drei davon hatten ihre Waffen auf mich gerichtet. Nach einer Fahrzeit von einer halben Stunde hielt der Wagen mit einem Ruck an.

Einer winkte mit der Waffe. Ich kletterte über den Rand der Ladefläche und trat auf die Stufe. Es schien ihnen nicht schnell genug zu gehen, denn plötzlich spürte ich den Kolben einer Waffe in meinem Rücken. Ich schlug hart auf, als ich den Boden erreichte.

Ich hatte noch keine Zeit gehabt, mich über die neuentstandene Situation zu fürchten. Als ich so auf dem Boden lag, die Stiefel dieser asiatischen Soldaten vor mir sah und einen der Männer schreien hörte, ich solle gefälligst aufstehen, sprang mich die Angst an. Ich war nie ein Held gewesen und in solchen Situationen wollte ich immer lieber woanders sein. Gleichzeitig suchte ich aber den Tod. Ich hatte den Unfall meiner Familie noch nicht überwunden und manchmal wollte ich sterben, wenn ich an sie dachte. Dieses Gefühl überwältigte mich für einen Moment fast und ich überlegte, ob ich ihn angreifen sollte. Er würde schießen, dann wäre alles vorbei.

Ich sprang auf, wirbelte herum und hob die Faust. Der Soldat sah meine wütenden Augen, die Waffe zuckte ein Stück höher. Einen Moment dachte ich, er würde schießen, als mir einer der anderen Soldaten den Kolben seiner Waffe in den Nacken schlug.

Ich sah noch, wie der Boden auf mich zukam. Als ich aufschlug, war ich schon ohne Bewußtsein.

Oh, mein Kopf. Ich preßte meine Hände gegen die Schläfen. Das nützte aber nichts, und so rollte ich mich herum, und versuchte, auf die Beine zu kommen.

Ich schlug mir den Kopf an. Der Schmerz drohte mich für einen Moment wieder zu betäuben, aber dann hatte ich mich wieder in der Gewalt. Während ich mit einer Hand meinen schmerzenden Schädel hielt, blickte ich mich im Sitzen um.

Durch eine kleine Luke in der Decke, in einer Ecke an der Wand, fiel ein schmaler Lichtstreifen ins Innere des Raumes. Die Decke war höchstens eineinhalb Meter über mir, aber das Gefängnis war sehr breit. Ich sah meinen Freund in einer Ecke hocken. Er hatte die Knie angezogen, seinen Kopf darauf gelegt. Er schien zu schlafen. Aber gerade, als ich das dachte, öffnete er die Augen.

»Auch schon wach?« Sein Unterton war zynisch. Zweifellos hatte er gesehen, was mit mir geschehen war. Er wußte, daß ich Glück gehabt hatte. Genausogut konnte ich tot sein.

»Ja«, krächzte ich. »Ich soll dich grüßen.«

Er blickte mich fragend an.

»Vom Teufel«, machte ich ihm klar. »Er sagte, er freut sich schon auf dich.«

Ich wußte selbst, daß der Witz flach war. Trotzdem lachte ich ein krächzendes Lachen, das ihm nicht einmal ein Grinsen entlockte.

»Diese Art von Galgenhumor ist völlig unangebracht. Sie haben uns in eine Festung eingesperrt, ein riesiges, steinernes Bauwerk, mitten in der Wüste. Wir kommen nicht an unser Gepäck. Findest du das immer noch zum Lachen?«

»Woher?« flüsterte ich. »Woher wußten sie, daß wir kommen?«

»Keine Ahnung.«

Wir schwiegen, und blickten ratlos vor uns auf den Boden. Eine Kakerlake huschte an mir vorbei und ich zerdrückte sie mit dem Stiefelabsatz.

»Aber das Schlimmste …« Er verstummte, schien zu überlegen, ob er überhaupt weitersprechen sollte.

Ich sagte nichts. Er würde mir schon sagen, worum es ging. Und wenn nicht, war es mir auch egal. Verzweiflung drohte mich zu überkommen.

Seine nächsten Worte aber rissen mich aus meiner beginnenden Trance: »Willi Böck ist hier.«

»WAS

Ich sprang auf die Beine, und schlug mir wieder den Kopf an. Ein müdes Grinsen zauberte sich auf Manfreds Gesicht, während ich an der Wand wieder nach unten sank. Lange konnte ich meinem Kopf das nicht mehr zumuten, sonst würde er zerspringen.

Ich rieb meine Schädeldecke, wo sich schon die zweite Beule zeigte. Die Situation hatte etwas komisches, aber wenn ich an diesen Mörder dachte, wollte mich keine Freude überkommen. Ich schlug verzweifelt mit der Handfläche auf den Boden, was mir weitere Schmerzen eintrug. Dann schluchzte ich auf.

Hofer verzog verächtlich die Mundwinkel, was meine Tränen sofort verschwinden ließ.

»Wenn du deine Selbstmitleidsphase überwunden hast, überleg' dir lieber, wie wir wieder hier herauskommen. Ich will den Kerl sterben sehen, du nicht?«

Ich riß mich zusammen, kauerte mich an die Wand, wie er es tat und begann zu überlegen.

Wir würden hier gar nicht herauskommen, erkannte ich sehr schnell. Sie mußten uns schon hier herauslassen, sonst würden sie in einigen Jahren nur noch ein paar Knochen von uns hier finden. Vielleicht der Mann, den ich in meinen Träumen gesehen hatte.

Ich grinste. Der würde uns jetzt nicht helfen, und so hoffte ich doch lieber darauf, daß einer die Türen unseres Gefängnisses öffnen würde.

Aber ich mußte lange darauf warten.

Die Zeiger unserer Uhr standen auf drei Uhr morgens, als die Tür geöffnet wurde. Zwei Tage waren wir in dem Loch gesessen, hatten nichts zu essen oder zu trinken bekommen und mußten unsere Notdurft in einem Eimer verrichten, der in der Ecke stand und nie geleert wurde. Dann knirschte ein Schlüssel im Schloß der Tür.

Ich riß die Augen auf. Hofer warf mir einen warnenden Blick zu. Ich nickte, öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Meine ausgetrocknete Kehle brachte nicht mehr als ein Krächzen zustande. Ich fuhr mit der Zunge über meine rissigen Lippen, um sie etwas zu befeuchten, als die Tür nach außen schwang.

Ein Gesicht erschien in der Öffnung. Der Mann befahl uns herauszukommen.

Wir krochen durch die kleine Luke und kniffen die Augen zusammen. Auch in dem engen Gang, der uns erwartete, war es dunkel, aber die Lampe, die der Soldat in der Hand hielt, blendete uns für einen Augenblick. Dann schwenkte der Lichtschein zur Seite und wies uns die Richtung, die wir einschlagen sollten.

Wir stolperten vor dem Mann, der mit der Waffe drohte, in den Gang. Durstig und verzweifelt bahnten wir uns einen Weg, wobei wir immer gebückt gehen mußten, da auch hier die Höhe der Decke nur eineinhalb Meter hoch war.

Dann erreichten wir eine Leiter, die wir hinaufklettern mußten. Oben erwarteten uns weitere Soldaten, die uns durch einen weiteren Gang führten.

Wir mußten eine enge Wendeltreppe hinaufklettern. Es war kühl hier, aber nicht unangenehm kalt. Die Wände mußten sehr dick sein.

Durch eine Luke, die in der Wand des Turmes eingelassen war, erkannte ich einen Teil der Wüste, die uns umgab.

Wir waren immer noch in der Gobi und näherten uns mit jedem Schritt, den wir machten, einem Schicksal, auf das ich eigentlich gar nicht neugierig war.

Vor einer Tür machten wir Halt. Der Soldat stieß die Tür auf und führte uns in einen Raum.

Und da stand er.

Ich hatte schon Bilder von ihm gesehen und erkannte ihn deshalb sofort. Es war dieser Agent Willi Böck.

Ein hochgewachsener, sehr kräftiger Mann. Er hatte blaue Augen und blonde, fast weiße Haare. Sein Gesicht war glatt und ebenmäßig, bis auf eine Narbe an seiner Wange, die er einem früheren Zusammentreffen mit Hofer verdankte. Er war schlank und kräftig. Er steckte in einer chinesischen Uniform mit den Abzeichen eines Majors.

Ich ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Es gelang mir nur mühsam, mich zu beherrschen, als ich sein Gesicht erkannte. Er grinste auch noch spöttisch!

Ich sah rot und für einen Moment wollte ich mich auf ihn stürzen. Gerade noch konnte ich mich beherrschen. Ich wollte ihn mit bloßen Fäusten angreifen, wußte aber, daß das sinnlos war. Dann erinnerte ich mich an das Messer.

Sofort wurde ich ruhiger. Ich hoffte, daß die Männer uns mit ihm allein lassen würden, aber das war nicht sicher. Einige der Männer verließen den Raum, als der Agent ihnen zunickte, aber einer blieb. Er bedrohte uns mit seiner Waffe, während Böck waffenlos zu sein schien.

Ich entspannte mich bewußt und gehorchte, als er uns bedeutete, uns auf den Stühlen niederzulassen. Der Raum hatte ein Fenster, durch das Licht, aber auch Kälte hereinkam. Deshalb waren alle Anwesenden dick eingepackt.

Als der Soldat hinter uns stand, sah ich meine Chance gekommen. Böck fragte uns, wie wir auf sein Versteck gekommen seien. Er wollte den Verräter wissen. Aber keiner von uns würde ihm verraten, wer der ADLER war.

»Der ADLER, so«, sagte er lächelnd.

Er wußte es!

»Ja, ich kann eure Gedanken lesen.« Er grinste wie ein Irrer, aber das verging ihm, denn ich konnte nun nicht mehr länger warten. Warum hatte er meine Gedanken an das Messer nicht aufgegriffen?

»Messer?« schrie er, aber da war es zu spät. Ich hatte nach hinten gegriffen und hielt die Waffe in der Hand. Ich wirbelte herum, das Messer wischte durch die Luft. Blut spritzte über meine Kleider, während die Kehle des Soldaten wie ein zweiter Mund aufklaffte. Der Mann sank vornüber und stieß einen gurgelnden Schrei aus.

Dann drehte ich mich zu Böck um, der sein Entsetzen überwunden hatte und in seinen Hosenbund faßte. Er mußte eine Waffe hinter dem Rücken haben!

Ich nahm die Waffe an der Spitze und warf. Manfred sprang aus der Wurflinie, bevor die Klinge ihn erreichte, dann wirbelte das Messer auf den Mann zu. Ich hatte auf die Kehle gezielt, aber als er sich bewegte, krachte die Klinge nur in seine rechte Schulter. Er stöhnte laut auf und taumelte rückwärts. Das Fenster! Er kippte über den Sims und verschwand mit einem gellenden Schrei.

Ich sprang ans Fenster, um ihn sterben zu sehen. Leider machte er mir nicht das Vergnügen. Er landete auf einem Stapel Säcke, die auf der Ladefläche eines Armeelastwagens lagen. Die Soldaten, die den Wagen entleeren wollten, sprangen entsetzt zur Seite. Böck lag auf dem Rücken und schrie vor Schmerzen. Mit verzerrtem Gesicht zog er das Messer aus seiner Schulter, dann blickte er mit blutunterlaufenen Augen zu mir auf. Er grinste schon wieder und winkte mir spöttisch zu. Dann brach er bewußtlos zusammen.

Aufschreiend fuhr ich herum, und riß die Maschinenpistole des Soldaten an mich. Bevor ich aber das Fenster erreichte, flog hinter mir die Tür auf. Die Soldaten kamen!

Ich schoß und tötete die ersten von ihnen.

Manfred winkte mir, während er auf den Sims kletterte. Er wollte den gleichen Weg wie Böck nehmen.

Gute Idee, dachte ich, schoß rückwärtsgehend auf die chinesischen Soldaten und prallte neben dem Fenster an die Wand. Vor der Tür herrschte für einen Moment Ruhe. Ich blickte aus dem Fenster und sah Hofer von der Fläche des Lastwagens rollen, dann schwang ich die Beine auf den Sims. Zehn Meter! Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Einer der Soldaten spannte die Waffe. Gleich würde er feuern! Bevor der Schuß sich löste, sprang ich.

Es war nicht so schlimm, wie ich dachte. Ich prallte auf die Säcke und ließ mich sofort zur Seite fallen. Elegant rollte ich ab und nahm dem Sturz so die Wucht. Dabei geriet ich an den Rand der Ladefläche und stürzte über sie hinunter. Dieser Sturz rettete mir das Leben. Aus dem Fenster über mir erklang das Geräusch von Schüssen und ich rollte unter den Wagen. Hofer hatte einen der Soldaten niedergeschlagen und entwaffnet. Während ich auf andere Soldaten im Hof feuerte, beschoß er das Fenster.

Als sich nichts mehr rührte, rollte ich unter dem Wagen hervor. An Hofers Seite rannte ich aus dem Hof.

Unser Jeep! Der Schlüssel steckte, sie hatten ihn offensichtlich selbst benutzt. Unser Gepäck war verschwunden, bis auf einen unserer Rücksäcke. Schnell sprangen wir in den Wagen. Der Motor brüllte auf, wir rasten davon.

Eine Staubwolke vor uns wies den Weg. Ein Fahrzeug der Chinesen, mit dem verwundeten Böck an Bord. Wir verfolgten ihn, denn unser Auftrag war ihn zu eliminieren. Genau das würden wir auch tun.

Die Staubwolke wurde nicht größer. Wir erreichten das Fahrzeug nicht, aber er schaffte es auch nicht, den Abstand zu vergrößern.

Wohin wollte er? Wir wußten es nicht, aber wir würden es bald herausfinden.

Ich wußte, daß es in der Nähe keine Dörfer gab. Das Nächste lag fast zweihundert Kilometer südlich. Sie würden es nicht so schnell erreichen können, aber ich bezweifelte, daß sie es versuchten. Ihr Ziel mußte näher liegen, schließlich war der feindliche Agent verletzt. Also was wollten sie da draußen?

Endlich erreichten wir eine Ebene. Eine glatte Bahn konnten wir schon von weitem erkennen, aber es dauerte noch einen Moment, bis wir die Flugzeuge erkannten. Aus einer kleinen Baracke kamen Soldaten hervor, die das Fahrzeug in Empfang nahmen. Manfred warf mir einen Blick zu. Ich verstand und nickte. Er beschleunigte noch, während die Soldaten den verwundeten Böck in eines der Flugzeuge verluden.

Der Motor wurde gestartet.

Wir hatten die Soldaten fast erreicht, als die Maschine anrollte. Wütend feuerte ich auf die Männer, traf zwei von ihnen. Sie taumelten und sanken blutüberströmt zu Boden.

Die anderen rannten davon, um uns aus sicherer Entfernung unter Feuer zu nehmen.

Wir wendeten und verfolgten das Flugzeug. Die Einstiegsluke war noch offen, während einer der Soldaten verzweifelt versuchte, sie gegen den Fahrtwind zu schließen.

Ich eröffnete das Feuer. Er schrie auf und stürzte ins Flugzeug. Er versuchte nicht mehr, die Luke zu schließen.

Das Flugzeug wurde schneller und meinem Freund gelang es fast nicht schrittzuhalten. Ich stand auf, kletterte auf den Sitz und hielt mich fest. Ich wollte springen, als wir neben der Maschine waren. Da erschien ein Mann mit einer Waffe. Er schoß.

Eine Kugel pfiff nur wenige Millimeter an meinem Ohr vorbei, als mein Freund bremste. Die Luke schloß sich, nachdem die Insassen den Mann aus der Maschine geworfen hatte, den ich erschossen hatte. Die Räder lösten sich vom Boden.

Ich feuerte meine Maschinenpistole ab. Drei Schüsse lösten sich, die in eine der Tragflächen einschlugen. Dort waren die Tanks, aber das Flugzeug verwandelte sich nicht in einen Glutball. Lediglich der Treibstoff begann auszulaufen. Das Flugzeug löste sich endgültig vom Boden und ich warf die leergeschossene Waffe wütend aus dem Auto

Wir bremsten, während wir hinter der Maschine herblickten.

Leider war Böck entkommen, aber wir hatten eine weitere Spur. Einer der Soldaten des improvisierten Flugplatzes verriet nach einigem Zureden, daß der Agent nach Afrika fliehen wollte. In Libyen würde er erneut Aufnahme finden. Wir befragten ihn noch etwas genauer und erfuhren, daß der Zielflughafen an einem Wasserloch lag. Das Loch trug den Namen Wadi El Zuq, und war in der Nähe von El Quatrun gelegen.

Nachdem uns der Major so freundlich Auskunft gegeben hatte, beschränkten wir uns darauf, ihm den Kolben einer Waffe über den Schädel zu ziehen. Dann stiegen wir in eines der anderen Flugzeuge und verließen das Land. Unter uns blieb die Wüste zurück, im Norden konnte ich noch den Goshun-See erkennen. Würde ich ihn wiedersehen?

Ach was, Träume sind Schäume, dachte ich. Ich wollte mich lieber auf diesen Mörder konzentrieren. Wenn er überhaupt noch lebte, war er in Libyen. Dort würden wir ihn finden.

Hinter der Grenze, auf dem Territorium von Bangladesch, landeten wir die Maschine. Von einer Telefonzelle aus riefen wir einen Verbindungsmann in Kalkutta an, der uns abholte. Drei Tage später waren wir schon wieder in Bayern, wo wir den nächsten Einsatz planten. Diesmal würden wir ihn kriegen.

7. Afrika

Der Lärm der Maschine, die uns mitten in Libyen abgesetzt hatte, war noch nicht verklungen, als wir uns schon zwischen den Dünen versteckten.

Ein Flugzeugträger der amerikanischen Marine hatte uns in Küstennähe gebracht. Zwei Jäger brachten uns in die Wüste. Von dem Tiefflug brannten mir jetzt noch die Augen. Einigemal hatte ich gedacht, der Pilot würde mitten durch die Düne fliegen. Aber jedesmal hatte er es gerade noch geschafft, die Maschine hochzuziehen. Dann, als der Pilot uns das Zeichen gab, hatten wir die Kuppeln geöffnet. Der Schleudersitz brachte uns aus der Maschine.

Ein anderes Flugzeug warf eine Kiste ab, die unsere Ausrüstung enthielt. Wir rafften hastig die Fallschirme zusammen, die uns nur verraten konnten, und vergruben sie mit bloßen Händen im Sand der Sahara. Schnell suchten wir den Landeplatz der Kiste auf und entnahmen die Ausrüstung. Mit einem kleinen Klappspaten vergruben wir die Kiste und die überflüssigen Teile der Ausrüstung. Dann schulterten wir die Rucksäcke, hängten Wasserflaschen an unsere Gürtel und machten uns auf den Weg.

Eine Karte und ein Kompaß halfen, die richtige Richtung einzuhalten, und bevor der Durst quälend wurde, sahen wir die Palmen der Oase vor uns.

El Quatrun lag am Rande einer Sandwüste, die Oase einige Dutzend Kilometer westlich davon, mitten in dieser Sandwüste, über deren Dünen wir wanderten. Wir schlichen uns in die Nähe des Wasserloches und fanden ein Lager einheimischer Beduinen, ein kleiner Stamm, bei dem dieser Mörder untergetaucht war.

Obwohl wir den Monat Januar des Jahres 1965 schrieben, war es in dieser Wüste natürlich sehr heiß und schon bald war unsere sowieso schon leichte Kleidung durchgeschwitzt.

Wir beschlossen, in der Nähe des Lagers zu warten. Schweigend legten wir uns in der Wüste auf die Lauer und beobachteten abwechselnd jede Regung zwischen den Zelten. Hinter der Düne lagen wir in guter Deckung. Die Oase lag etwa dreihundert Meter hinter dieser Düne, die fast fünfzig Meter hoch war. Von hier oben hatten wir einen guten Blick auf das Camp.

Ich lag gerade unter einer leichten Zeltplane im Schatten, als mich Manfred zu sich rief. Den Dicken plagte die Hitze natürlich noch mehr als mich und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als er sich stöhnend die Stirn abwischte.

Er ignorierte meine offenkundige Heiterkeit und deutete ins Lager. Ich nahm das Fernglas hoch. Das Grinsen erlosch sofort, als ich ihn erkannte. Es war Böck, der dort unten stand. Er hielt sich die offensichtlich immer noch schmerzende Schulter, die ein Verband zierte. Währenddessen redete er mit einem der Beduinen. Er unterhielt sich offensichtlich erregt auf den Mann ein, der mit stoischer Ruhe dastand und die Hitze ignorierte. Der Mann hatte einen schwarzen Umhang an und trug einen ebenfalls schwarzen Turban. Ein Lappen, mit dem er normalerweise sein Gesicht verhüllen konnte, wenn der Sand ihm ins Gesicht wirbelte, hing jetzt lose herunter.

Glücklicherweise war gerade die heißeste Zeit des Tages. Die Beduinen lagen faul im Schatten, während wir auf der Düne lagen und schwitzten. Wenigstens schwärmten sie nicht aus, während es so heiß war. Wir hofften, in dieser Nacht unbehelligt ins Lager zu kommen.

Böck verstummte, als der Beduine sich abwandte und in sein Zelt ging. Der Mann in Schwarz legte sich unter eine Zeltplane und nahm eine der Frauen in den Arm. Er ignorierte den vor ihm stehenden Agenten. Verärgert wandte sich der Agent um und ging in ein anderes Zelt. Wir blickten uns an. Das mußte sein Zelt sein.

Nach mehreren Stunden ging die Sonne unter. Wir hatten mittlerweile unsere Wasserflaschen leergetrunken. Da jeder noch eine zweite hatte, war das kein Problem. Die Nacht war hereingebrochen und in den Zelten war Ruhe eingekehrt. Lautlos glitten wir über den Sand nach unten.

Wir versteckten unsere Ausrüstung in der Nähe der Kamele, mit denen wir zu fliehen gedachten. Die Tiere wurden natürlich bewacht, aber der Wachposten gehörte nicht gerade zu den aufmerksamsten. Er dachte sich wohl, wer in dieser Wüste freiwillig herumlaufen würde, müsse verrückt sein. Und irgendwie hatte er damit auch recht. Jedenfalls kauerte er in sitzender Stellung, während er sich an seiner Waffe festhielt. Der Kopf war auf seine Brust gesunken. Der Mann schnarchte leise

Im Nu waren wir über ihm. Danach schlief er wirklich, ganz tief und fest, denn er hatte den Kolben von Manfreds Pistole zu spüren bekommen. Drei der Tiere suchten wir aus, sattelten sie und machten sie zur Flucht bereit. Die Tiere ließen alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen.

Dann wandten wir uns dem Lager zu. Zwischen den Zelten regte sich nichts, aber um das Camp waren mehrere Wachen verteilt, einer der Beduinen lief in regelmäßigen Abständen um die Zeltstadt, um die Leute zu überprüfen, damit sie nicht schliefen. Sie schienen ihren Job ernster zu nehmen als unser Freund, den wir gefesselt und geknebelt hatten. Wir konnten keine Störungen gebrauchen.

Eine der Wachen tauchte aus der Dunkelheit vor uns auf. Ich schlug sie nieder, bevor sie Alarm geben konnte. Manfred fing den Mann auf. Er wurde gefesselt und auf die Erde gelegt. Dann warteten wir auf den zweiten Mann, der bald seine Runde machen würde. Wir hatten ihn schon zweimal dabei beobachtet und wussten in etwa, wann wir mit ihm rechnen mußten.

Nach einige Minuten hörten wir Schritte. Manfred versteckte sich, während ich so tat, als sei ich der Wächter. Er rief mich in seiner Sprache an, die ich nicht verstand. Ich machte das einzig richtige und sagte gar nichts. Er kam näher und herrschte mich an. Ich vermutete, daß er wissen wollte, ob ich taub sei. Inzwischen war er nahe genug heran, um den wirklichen Wächter auf der Erde liegen zu sehen. Er schöpfte Verdacht, drehte sich um und wollte schreien. Mit einem Schritt stand ich hinter ihm. Mein Messer zuckte hervor, strich über seine Kehle. Die Wunde klaffte, ein Gurgeln klang aus ihr, dann sank der Mann nieder. Er würde nie mehr schreien.

Ich winkte Manfred, dann führte uns unser Weg tiefer ins Lager. Lautlos schlichen wir um die Zelte, bahnten uns unseren Weg, bis wir das Zelt des Mörders erreichten. Nur mit Blicken verständigten wir uns. Die Zeltplane stellte kein Hindernis dar. Wir glitten hinter dem Zelt unter der Plane durch. Die Dunkelheit war vollkommen. Leise Schlafgeräusche verrieten uns den Platz, an dem Böck schlief.

Ohne Geräusche zu verursachen, näherten wir uns dieser Stelle. Da war er. Ich verzog das Gesicht vor Haß. Dann hob ich meine Pistole.

Gerade, als ich ihn mit Hilfe des Kolbens endgültig schlafen legen wollte, rührte er sich. Ich war so überrascht, daß ich keine Bewegung machte. Dann explodierte etwas in meinem Kopf. Ich sah nur noch das Flimmern von Sternen, die vor meinem geistigen Auge in der Dunkelheit zu kreisen begannen.

Dann nichts mehr.

Als ich wieder zu mir kam, war Dunkelheit um mich herum. Mein Kopf schmerzte schier unerträglich. Ich wollte nach der Stelle an meinem Kopf greifen, die besonders schmerzte. Meine Arme ließen sich nicht mehr bewegen, waren wie gelähmt.

Ich versuchte, mich herumzudrehen. Dies gelang, und schon nach wenigen Augenblicken begannen meine Hände zu kribbeln. Das Kribbeln wurde durch ein Jucken abgelöst, das fast nicht zu ertragen war. Ich versuchte, mich nicht mehr zu rühren.

Meine Hände waren eingeschlafen gewesen, und nach wenigen Minuten, als ich sie wieder spüren konnte, merkte ich auch, warum. Sie waren auf den Rücken gefesselt, ließen sich nicht bewegen. Zum Glück lagen die Fesseln nicht zu fest um die Handgelenke. Sie schnürten das Blut nicht ab.

Was war geschehen?

Langsam erinnerte ich mich an die Situation, die zu meiner Bewußtlosigkeit geführt hatte. Als wir ins Zelt des Willi Böck geschlichen waren, hatte uns der Mann überwältigt. Anscheinend hatte er doch nicht geschlafen, oder wir hatten Geräusche gemacht, die uns selbst nicht zu Bewußtsein kamen, die aber unser Feind gehört hatte.

Ich lag regungslos in der Dunkelheit, bis ich links von mir, in meinem Rücken, ein Geräusch hörte. Ich rollte mich wieder auf den Rücken, dann auf die andere Seite, kam hier aber nicht sehr weit. Eine große Masse verhinderte, daß ich mich ganz drehen konnte. Das konnte eigentlich nur Manfred sein. Ich flüsterte seinen Namen, aber es kam keine Antwort.

In der Dunkelheit verlor ich jedes Zeitgefühl und so wußte ich nicht, wie lange wir nebeneinander gelegen hatten, als es plötzlich neben mir laut wurde. Der Freund schnaubte, wie ein Walroß, dann warf er sich fluchend herum. Er landete halb auf mir. Ich protestierte gegen diese Behandlung, woraufhin er sich wieder beruhigte. Er brummte noch einige Zeit wütend, dann fragte er mich, wo wir seien.

Leider konnte ich ihm nicht helfen und so warteten wir schweigend in der Dunkelheit.

Nichts regte sich.

Ohne Zeitgefühl kam mir die verstrichene Zeit wie Tage vor, aber anscheinend waren es doch nur Stunden gewesen. Außerhalb des Zeltes wurde es hell. Die Nacht war also noch nicht um gewesen, als wir zu uns gekommen waren. So lange konnten wir nicht bewußtlos gewesen sein.

Die beginnende Helligkeit enthüllte den Rücken einer vermummten Gestalt, die vor dem Zelt saß. Offensichtlich einer der Beduinen.

Er tat uns nicht den Gefallen, uns zu beachten. So blieb das, bis die Sonne im Zenit stand. Der Durst wurde quälend. Wir lagen bewegungslos im Zelt, nur von Zeit zu Zeit drehten wir uns auf die Seite, um unsere eingeschlafenen Glieder wieder aufzuwecken.

Als der Zenit bereits überschritten war, trat unser Freund Willi Böck in den Raum. Ich musterte ihn haßerfüllt, dann konzentrierte ich mich.

Als wir von unserem letzten Einsatz zurückkamen, richteten wir unser Augenmerk auf die Tatsache, daß der Mörder offensichtlich unsere Gedanken gelesen hatte. Wir versuchten uns an autogenem Training, bis wir in der Lage waren, uns selbst so zu hypnotisieren, bis wir an nichts mehr dachten.

So lagen wir beide nun im Zelt und versuchten, uns in eine solche Stimmung zu versetzen. Der Mann stellte uns Fragen. Wir versuchten, nicht hinzuhören und unsere Gehirne reagierten zuverlässig.

Schließlich erhob er sich wütend. »Sollen wir euch hier verdursten lassen?«

Er schüttelte den Kopf, als wir auch hierauf nicht reagierten.

Dann verließ er das Zelt.

Nach einer Stunde kam einer der Beduinen, der uns Wasser gab. Wir waren nicht so stolz, es abzulehnen. Der Mann verabreichte es uns in ausreichender Menge. Böck brauchte uns noch.

Wir lagen weiterhin regungslos, bis die Nacht hereinbrach. Nahrung hatte man uns nicht gebracht.

»Diese Nacht«, flüsterte Manfred.

Ich verstand. Wir wollten ausbrechen, oder es zumindest versuchen. Wahrscheinlich befürchtete er, daß wir zusammenbrechen und doch noch reden, oder besser denken, würden, wenn wir noch lange da blieben.

Die Nacht brach wieder herein.

Diesmal allerdings blieb es nicht so dunkel. Ein Feuer vor dem Zelt hüllte das Lager in Helligkeit, Schatten zuckten zwischen den Zelten. Zwei Beduinen saßen vor dem Zelt und unterhielten sich leise.

Als die Nacht fast zu Ende war, war das Feuer heruntergebrannt. Die Männer legten kein Holz mehr nach, sie schienen auf das Morgengrauen zu warten.

Manfred regte sich. Er rollte sich auf die Seite, so daß er mir den Rücken zu wandte. Dann versuchte er, an mich heranzurücken.

Auch ich drehte mich und kam ihm entgegen. Unsere Finger schmerzten, sie waren eingeschlafen. Wir mußten warten, bis wir sie wieder bewegen konnten. Nach einigen Minuten brachte ich meine gefesselten Hände an seine, versuchte, die Knoten zu lösen.

Meine Fingernägel brachen ab. Die Finger begannen zu bluten. Ich biß die Zähne zusammen, bis der Knoten sich lockerte. Eine halbe Stunde verging, als die Knoten sich öffneten. Die Seile fielen zu Boden, als der Freund seine Hände bewegte.

Ich hörte Geräusche, als er sich aufrichtete. Er löste die Fesseln an seinen Beinen, dann wandte er sich zu mir um. Es dauerte nicht lange, dann war auch ich frei.

Mittlerweile begann es zu dämmern. Vor dem Zelt konnten wir die Schemen der Männer erkennen, die unser Zelt bewachten. Es waren immer noch zwei, was unsere Aufgabe nicht einfacher machte.

Wir bewegten uns auf den Ausgang des Zeltes zu. Ich begann, zu taumeln. Der Hunger, der Durst und die Müdigkeit erleichterten unsere Aufgabe nicht. Ich fing mich und steuerte mein Ziel an: der Rechte der beiden Beduinen.

Mein Arm schlang sich um seinen Hals, ich schnürte ihm die Luft ab. Bevor der andere Schreien konnte, war Manfred über ihm. Der Freund würgte seinen Gegner, aber ich hatte keine Zeit, auf ihn zu achten. Während ich meinem Gegner die Luft abschürte, griff der nach seinem Messer, das in seinem Gürtel steckte. Eine Hand brauchte ich nun, um sein Handgelenk festzuhalten. Der Mann wehrte sich verzweifelt, entwickelte im Todeskampf ungeahnte Kräfte. Ich verdrehte sein Handgelenk, aber der Mann ließ seine Waffe nicht fallen. Mein Arm drückte noch fester zu, aber der Mann bäumte sich in meinem Griff auf. Fast wäre er mir aus der Hand gerutscht!

Gerade noch konnte ich ihn festhalten. Ich zerrte an seinem Handgelenk. Sein eigenes Messer wendete sich gegen ihn. Da ihn langsam die Kräfte verließen, schaffte er es nicht, gegenzuhalten. Er ächzte in Todesangst, als die Spitze des Messers sich seiner Magengegend näherte. Die Klinge durchdrang seine Kleidung, bohrte sich in die Eingeweide. Er röchelte, wand sich in meinem Arm, dann erlahmte sein Widerstand.

Langsam ließ ich ihn zu Boden gleiten. Er war tot.

Manfred hatte größere Schwierigkeiten mit seinem Gegner. Ich zog dem Mann mit einem herumliegenden Holz einen zweiten Scheitel. Der Mann erschlaffte in den Armen des Freundes. Schweigend fesselten wir ihn.

Dann wandten wir uns zur Flucht.

Leider wurden wir bemerkt. Die Beduinen begannen zu schreien, als wir das Lager verlassen wollten. Sofort wurde es im Lager lebendig. Die Beduinen sprangen von ihren Nachtlagern auf, griffen nach ihren Waffen und rannten aus den Zelten.

Ich sah den Blondschopf unseres Gegners, hörte ihn Befehle schreien. Ich versuchte, ihn zu ignorieren. Erst einmal mußten wir aus dem Lager verschwinden. Dann wollten wir weitersehen.

Manfred zog mich zum Wasser der Oase. Wir verschwanden hinter einigen Zelten, aus der Sicht der Männer, die eigentlich erwarteten, uns in eine andere Richtung flüchten zu sehen. Bevor die ersten Männer hinter den Zelten auftauchten, verschwanden wir im Schilf am Ufer des Sees. Das Wasser wurde aufgewirbelt, dann verschwanden wir unter seiner Oberfläche.

Der kleine See stellte kein Problem dar. Wir tauchten durch ihn hindurch, hoben unsere Köpfe am anderen Ufer von Schilf verdeckt aus dem Wasser.

Die Beduinen rannten schreiend am See entlang. Schnell schnitten wir mit dem erbeuteten Messer zwei der Schilfrohre zurecht, tauchten unter das Wasser und benutzten die langen Rohre als Schnorchel. Lange blieben wir unter Wasser, in ständiger Angst vor einer Entdeckung.

Über uns blieb alles ruhig.

Nach einer Viertelstunde tauchten wir langsam auf. Keiner der Beduinen war zu sehen.

Wir näherten uns dem Ufer, verließen das Wasser. Niemand erwartete uns.

Die Spuren im Sand verrieten uns, daß die Männer in die Wüste gelaufen waren. Offenbar dachten sie, wir hätten die Oase schon hinter uns gelassen.

Vorsichtig umrundeten wir den See, drangen wieder ins Lager ein und suchten das Zelt unseres Feindes. Wir fanden es, drangen ein und begannen, nach unserer Ausrüstung zu suchen.

Wir fanden sie ohne Probleme, sie lag mitten im Zelt.

Wir hoben sie auf.

Gerade, als wir uns umdrehen wollten, hörten wir eine Stimme. »Bleibt mal schön so stehen.«

Der zynische Unterton verriet den Sprecher, auch hätte ich die Stimme unter Tausenden erkannt. Es war der Mörder meiner Familie.

Wir hoben die Hände in ohnmächtigem Zorn. Dann drehten wir uns um.

Der Mann bedrohte uns lächelnd mit der Waffe. Er schien sichtlich zufrieden mit sich.

»Fast hättet ihr das geschafft. Leider habe ich euch im See gespürt.«

Er winkte mit der Waffe und bedeutete uns, die Ausrüstung mitzunehmen. Wir verließen das Zelt. Er schickte uns in die Wüste, weg von den Beduinen und dem Lager. Wir gingen mit erhobenen Händen vor dem Mann her.

Meine Gefühle waren nicht zu beschreiben. Ich wußte, daß wir verloren hatten. Er würde uns in die Wüste führen, dort würde er uns erschießen. Wir würden diesen Tag nicht überleben.

Nicht, daß mich der Gedanke an den Tod sonderlich berührt hatte. Seit vielen Jahren wartete ich auf ihn, manchmal schien ich ihn regelrecht zu suchen. Bisher hatte er mich immer gemieden, als sei ich nicht der Beachtung wert. Diesmal schien es soweit zu sein.

Das einzige, was ich bedauerte, ich würde den Mörder nicht mitnehmen können. Er schien der einzige Grund, der mich bislang am Leben gehalten hatte.

Wir stolperten zwischen die Dünen, der Mann trieb uns immer weiter. Nach einer Stunde befahl er uns, zu halten. Warum er so lange gewartet hatte, ich wußte es nicht. Auf sein Geheiß drehte ich mich um. Ich versuchte, mich zu beherrschen, aber die Gefühle drohten, mich zu überwältigen. Diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun.

»Ich weiß, was du denkst.« Er blickte direkt in Manfreds Augen. »Ich wollte das nicht. Niemals war das meine Absicht. Schließlich habe ich andere Aufgaben, als Unschuldige zum Witwer zu machen. Ich …« Hilflos brach er ab.

Wahrhaftig. Der Schlächter hatte so etwas, wie Gefühle. Ich fragte mich, warum er nicht mit mir redete. Allerdings verfolgte ich den Gedanken nicht weiter. Es gab Dinge, die weit wichtiger waren.

»Wenn du nicht so viel gesoffen hättest, würde ich dir vielleicht glauben können. Aber so …«

Ich ließ den Rest des Satzes offen. Er reagierte kaum auf mich. Er wußte sichtlich nicht, was ich meinte.

»Ist ja auch egal. Das einzige, was mich noch interessiert … Wer ist der ADLER

Ich versuchte, mich abzulenken. Dachte nur noch an den Haß, den ich ihm entgegenbrachte. Für einen Moment geriet er ins Taumeln, wohl von der Intensität meiner Gedanken wie gelähmt.

Diesen Moment nutzte Manfred. Er warf sich nach vorn, brachte Böck aus dem Gleichgewicht. Der Mann taumelte, schien sich wieder fangen zu wollen. Dann kippte er nach hinten. Bevor er seine Waffe wieder heben konnte, war ich über ihm. Mit einer Hand drückte ich sein Handgelenk auf den Boden, mit der anderen packte ich seinen Hals. Ein Schuß löste sich, als er die Hand zur Faust ballen wollte. Der Klang schallte weit über das Land. Die Beduinen! Bestimmt hatten sie das gehört.

Ich benutzte beide Hände, um ihn zu entwaffnen. Die Pistole flog in hohem Bogen in den Sand.

Haß sprühte aus den Augen unseres Gegners. Er zog die Beine an den Leib, trat nach mir und beförderte mich in den Sand. Manfred empfing er mit einem gemeinen Tritt in den Unterleib.

Mein Freund krümmte sich, taumelte und fiel zu Boden. Willi Böck sprang auf. Er wollte sich auf die Waffe werfen, schaffte es fast. Im letzten Moment war ich über ihm. Ich drückte ihn zu Boden. Er wand sich, entglitt mir und drehte sich unter mir. Wieder flog ich in den Sand.

Er kam auf die Beine. Keuchend rang er einen Moment um sein Gleichgewicht, da stand ich wieder. Mein Schwinger drohte, ihn umzureißen.

Den zweiten Schlag blockte er ab. Er nahm Karatestellung ein, trat nach meinem Kopf. Mit einer schnellen Bewegung konnte ich ausweichen.

Schweigend umkreisten wir uns. Der Freund war keine Hilfe. Ich mußte allein mit dem Gegner fertig werden.

Wieder griff er an, wieder schaffte ich es, auszuweichen.

Eine neuerliche Schlagserie blockte ich ab. Leider konnte ich nicht verhindern, daß er traf. Er erwischte mich im Magen und im Gesicht. Ich blieb nichts schuldig. Die Wut verlieh mir neue Kräfte. Einige Fausthiebe durchdrangen seine Deckung, die Lippe platzte auf. Dann schlossen sich meine Hände um seinen Hals.

Haßerfüllt drückte ich zu. Er wehrte sich, trat nach mir. Wir stürzten zu Boden, ich lockerte meinen Griff nicht. Dann kam ich auf ihm zu liegen.

Meine Finger preßten sich in seine Kehle. Seine Augen traten aus den Höhlen, er röchelte. Sein Gesicht wurde erst rot, dann verfärbte es sich blau. Todesangst stand in seinen Augen.

Ich spürte die Schläge, die meine Arme trafen, nicht. Seine Beine strampelten in der Luft herum. Dann erlahmte sein Widerstand. Der Mörder bäumte sich noch ein letztes mal auf. Er sank zurück. Er regte sich nicht mehr.

Ich ließ keuchend von ihm ab. Kein Triumph wollte in mir aufsteigen. Die letzten Jahre spulten sich vor meinem inneren Auge ab. Ich sah diese Momente im Zeitraffer an mir vorbeiziehen, zählte die Toten, die unseren Weg begleiteten. So viele waren gestorben, wegen einer Rache, die mich immer weiter trieb.

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und weinte.

Geschrei riß mich aus meinem Zustand, ich sprang auf. Kugeln warfen mich wieder in den Sand, ich landete auf meinem Gegner. Die Kugeln drangen in meine Beine, eine schlug in meinen Hals. Blut spritzte, das Leben wich aus meinem Körper. Mir wurde schwarz vor Augen, das Bewusstsein verließ mich.

Als ich erwachte, sah ich über mir blauen Himmel. Ich konnte nicht lange gelegen haben, das Geschrei der Beduinen war noch nicht verklungen. Ich sah wie durch einen blutigen Schleier, wie sie meinen Freund niederschlugen. Sie warfen ihn über eines der Kamele, die sie mitgeführt hatten. Dann rollten sie mich von Böck herunter. Der Tote wurde auf ein anderes Kamel gelegt, mich selbst ließen sie in den Sand fallen.

Rasch verschwanden sie in der Wüste.

Es berührte mich nicht. Ich war so müde. Mehr tot als lebendig lag ich auf der Seite, sah Blut, das aus meiner Halswunde rann. Meine Beine waren wie gelähmt. Bleierne Schwäche drohte mich in den Boden zu ziehen.

Mein Bewußtsein wollte schwinden, ich wollte mich dem nahen Tod überlassen.

Manfred! durchzuckte es mich. Ein nie gekanntes Gefühl überkam mich. Leben! Ich wollte leben!

Ich stemmte mich gegen den nahenden Tod, robbte durch den Sand. Die Schmerzen raubten mir fast den Atem, weiter kämpfte ich mich, auf eine der Taschen zu, die die Beduinen vergessen hatten. Das Funkgerät!

Es dauerte fast eine Stunde, bis ich die Tasche erreichte. Reines Adrenalin schien durch meine Adern zu rinnen, anders war das Wunder nicht zu erklären. Ich zog einen kleinen Kasten heraus.

Ich drückte eine Taste. Ein vorbereiteter Impuls verließ das Gerät. Eigentlich war es kein Funkgerät, sondern ein Peilsender. Es sendete auf einer Frequenz, die normalerweise selten benutzt wurde. Nur die Funkgeräte des Flugzeugträgers vor der Küste Libyens sollten ihn eingestellt haben.

Ich sank in den Sand zurück. Ich tat etwas, was ich vergessen zu haben glaubte. Ich betete.

Nach Stunden waren meine Lippen ausgedörrt und rissig. Mittlerweile schwächte mich der Durst noch zusätzlich. Ich begann, Bilder zu sehen, phantasierte. Niemand konnte mich hören. Wo war die Rettung?

Da! Geräusche, das Rattern der Rotoren eines Hubschraubers. War es nur Einbildung?

Nein! Ich hörte die Geräusche wirklich. Die Rettung? Oder waren es die Truppen der Libyer?

Jagdmaschinen rasten über mich hinweg. Dann kam der Hubschrauber in mein Blickfeld. Die Hoheitszeichen wiesen ihn als Amerikanisch aus. Ich wollte aufschreien, mein Glück der erbarmungslos brennenden Sonne mitteilen. Nur ein Krächzen verließ meinen Mund, die Kehle schmerzte unter der Anstrengung.

Die Maschine schwebte einen Meter über der Erde, Uniformierte sprangen in den Sand. Die Männer hoben mich auf eine Trage, der Peilsender wurde unter den Stiefeln eines der Männer vernichtet.

Dann hoben sie mich in die Maschine.

»Wo ist Manfred?«

Stahlblaue Augen bohrten sich in meine unstet herumirrenden, hielten sie fest.

»Beduinen«, flüsterte ich. »Gefangen.«

Das schien zu genügen, der Mann schrie in ein Mikrophon vor seinen Lippen, die Maschine hob sich. Knapp über den Dünen flohen wir aus dem Land.

Die nächsten Tage erlebte ich nicht bewußt mit. Kaum war ich an Bord des Flugzeugträgers, als sie mich in der Krankenstation operierten. Tage später erwachte ich aus meinem Koma.

In den ersten Stunden verstand ich nicht, was die Menschen um mich herum taten. Ich lag im Bett, meine Blicke an die Decke geheftet. Nach wenigen Stunden verließ mich mein Bewußtsein.

Eine Woche nach meiner Rettung konnte ich die ersten Worte sprechen. Ein Arzt erklärte mir, daß meine Beine gerettet werden konnten. Waren sie denn in Gefahr gewesen? Noch verstand ich nichts.

Mein Gedächtnis kehrte nach drei Wochen zurück. Da erfuhr ich, daß man Manfred nicht gefunden hatte. Von dem Zeitpunkt, als die Beduinen mich verlassen hatten, bis der Hubschrauber mich gerettet hatte, waren vier Stunden vergangen. Diese Zeit hatte den Beduinen gereicht, den Freund aus dem Lager zu schaffen. Die Jagdmaschinen suchten den Weg bis nach El Quatrun ab, ohne einen Spur von Manfred oder einer Karawane zu finden. Er schien vom Erdboden verschluckt.

Man vermutete, daß ihn die Beduinen quer durch die Wüste nach Westen verschleppt hatten. Genau wußte man es nicht. Eine Spur von ihm wurde nicht mehr gefunden.

Bis er sich Jahre später aus Ostberlin meldete. Daraufhin war ich in Aktion getreten.

Und heute waren wir wieder zu Hause. In Ulm, in meinem Haus, hatte ich alles noch einmal erlebt. Mittlerweile schrieben wir den 19. Juni 1971.

8. Europa

Die Medien der letzten Tage überschlugen sich beinahe. Sondersendungen wurden von anderen Sondersendungen abgelöst. Eine Meldung überschattete alles.

Die Zeitungen von heute verkündeten: »MENSCHEN AUF DEM WEG ZUM MOND

Perry Rhodan wollte mit seiner Mannschaft zu dem Planeten fliegen, der unsere gute, alte Erde umkreiste. Die Medien sprachen von einem neuen, kosmischen Zeitalter, ohne zu ahnen, wie recht sie damit hatten. Ein Mensch auf dem Mond! Die größte Leistung der Menschheit wartete auf ihre Krönung.

Die Fernsehsender in aller Welt berichteten live davon. Auch in Deutschland standen alle Empfänger auf Raumfahrt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Rakete war startklar. Der Countdown lief. Mir wurde schlecht.

Ich erinnerte mich, diesen Körper schon einmal gesehen zu haben. Ich zermarterte mein Hirn, wo das gewesen war. STARDUST stand an der Seite der Rakete.

Goshun-See, zuckte es durch meine Gedanken.

Richtig! Der Traum! Er schien mich in eine Zukunft geführt zu haben, die damals noch nicht Wirklichkeit war. Was war geschehen?

Ich verstand es nicht. Soweit ich mich erinnerte, war der Körper damals nicht startklar auf einer Rampe gestanden, sondern wie ein Mahnmal in einer Wüste mitten auf dem Gebiet der Asiatischen Föderation. Was bedeutete das? Was würde geschehen?

Ich schaltete den Fernseher aus. Ich wollte den Start gar nicht mehr sehen, denn ich spürte, daß etwas passieren würde. Würde ich wieder in die Gobi gehen? Und wenn ja, warum? Was sollte Rhodan dort?

Ich hielt ihn immer noch für verrückt. Aber ich hatte keine Zeit, mich näher mit ihm zu beschäftigen denn das Telefon klingelte.

Der BND hatte einen neuen Auftrag. Eine Woche später sollte es beginnen. In einer Woche würde ich wenigstens eines wissen, nämlich wie Rhodan in die Gobi kam.

Der Bahnhof von Stuttgart.

Manfred und ich sollten wieder hinter den eisernen Vorhang. Der ADLER hatte neue Informationen, die wir beschaffen sollten. Ein altes Duo, ein neuer Auftrag.

Der Freund hatte abgenommen. Im letzten halben Jahr war er rank und schlank geworden. Sein Äußeres hatte sich verändert, mit der Operation, die sein Gesicht verwandelt hatte, war auch mein Mißtrauen geschwunden.

Er war immer noch ein guter Mann. Er wollte wieder arbeiten. Diese leichte Aufgabe, Informationen aus Moskau zu beschaffen, sollte nur ein Anfang sein.

Der Zug war im Bahnhof eingefahren, wir stiegen aus. Ursprünglich wollten wir von hier aus mit dem Orientexpreß nach Budapest fahren, aber im letzten Moment änderten sich unsere Pläne. Wir sollten nun doch nicht über Wien nach Budapest fahren, sondern einen Umweg über Klagenfurt machen. Die Strecke über Wien sollte nicht sicher sein, also buchten wir Fahrkarten nach Spittal. Diese Stadt lag etwa dreißig Kilometer von Klagenfurt entfernt. Am Millstätersee wollten wir übernachten.

Der Zug fuhr in einer Stunde. Wir warteten in einer Bahnhofsbuchhandlung, wo wir uns Reiselektüre kauften.

Die Zeitungen berichteten von einer Notlandung des Rhodan in der Gobi. Er war im Gebiet des Goshun-See niedergegangen. Die AF wollte eine Rettungsexpedition starten. Ich traute ihnen nicht.

Acht Stunden später waren wir am Ziel.

Als wir den Bahnhof verließen, blickte ich mich um. Links lag das Postamt, vor uns ein großer Platz. Die Taxistände waren gegenüber. Wir riefen eines der roten Fahrzeuge, einen Daimler. Der Mann nickte, als wir Seeboden als Ziel angaben.

Wir verließen den Platz, passierten einen Park. Kurze Zeit später verließen wir die Stadt und fuhren durch eine Schlucht, auf einer Straße, die direkt an einem reißenden Fluß entlang führte. Menschen in Kajaks frönten dem Wildwasserfahren, während wir neugierig die wildromantische Landschaft betrachteten.

In Seeboden angekommen, stiegen wir in einer kleinen Herberge ab, die Postwirt hieß. Die Schlafräume waren in einem Nebengebäude untergebracht, die Villa Ulrich hieß. Müde bezogen wir die beiden Zimmer.

Wir aßen noch in der Gaststätte, die vorzügliches zu bieten hatte. Dann legten wir uns schlafen.

Ich erwachte, als ich ein Geräusch hörte. Ich öffnete die Augen, regte mich aber nicht. Meine Uhr war direkt vor meinen Augen, die Zeiger leuchteten. Es war kurz vor drei Uhr.

Da! Wieder ein Geräusch, wie Schritte, die sich näherten. Diebe? Eigentlich hatte das Haus nicht so gewirkt, aber vielleicht waren sie von außen gekommen?

Oder war die Gefahr im Hotel? Hatte ein feindlicher Agent unsere Spuren aufgenommen und erwartete uns hier? Aber wer sollte schon von uns wissen? Wir hatten eine andere Strecke genommen, als ursprünglich geplant und außer Manfred und mir wußten nur noch zwei Menschen davon.

Meine Hand tastete unter das Kissen, bis ich den kalten Stahl der Waffe fühlte. Ich packte sie fest, wartete. Da mein Bett an der Wand stand, konnte der Eindringling nur von vorne kommen.

Als er vor dem Bett stand, erkannte ich seinen Umriß. Er war mir nicht vertraut, ein schlanker Mann jedenfalls. Er hob beide Hände, der Mondschein, der durch eine Lücke im Vorhang drang, reflektierte auf etwas. Ich reagierte sofort, wälzte mich aus dem Bett. Die Beine wurden ihm unter dem Leib weggezogen. Er stürzte ins Bett, während ich auf den Boden prallte.

Ich sprang auf die Beine, warf mich auf ihn, preßte meine Waffe in seinen Nacken. Wütend tastete ich nach dem Lichtschalter, blendende Helligkeit durchflutete den Raum. Das war doch nicht …

Der Mann drehte sich um. Das Gesicht – es konnte nicht sein. Und doch war es Manfred. Das Messer steckte in der Matratze, genau dort, wo ich zuvor noch gelegen hatte.

Schockiert senkte ich die Waffe. Der Freund nutzte meine Verwirrung, trat gegen meine Hand und entwaffnete mich. Die Pistole verschwand kreisend unter dem Bett. Hofer sprang zur Tür, stieß mich zur Seite und verschwand.

Ich folgte ihm zunächst nicht, dann zog ich mich hastig an.

Der Verräter rannte über den Bürgersteig der Stadt. Ich verfolgte ihn, die Waffe in der Hand. Schweigend rannten wir, keiner wollte andere Menschen mit hineinziehen.

Manfred verließ die Stadt auf derselben Straße, die wir bei der Herfahrt benutzt hatten. Dann verschwand er im Dunkeln. Der Fluß rauschte direkt vor mir, ein dunkler Pfad verschwand links im Wald. Hofer war nirgends zu sehen.

Ich wandte mich nach links. Ich konnte nichts sehen, es war zu Dunkel. Es hatte keinen Sinn, ihm zu folgen. Ich brach die Suche ab und ging in die Pension zurück. Ich legte mich wieder ins Bett, um zu schlafen.

Anderntags bezahlte ich die Zimmer. Ich verließ die Pension und suchte eine andere, die Manfred nicht kennen würde. Es hieß Haus Regina.

Ich suchte eine Telefonzelle auf, die etwa hundert Meter bergab aufgestellt war. Dann rief ich den BND an, um den Verrat des Freundes zu melden. Der Auftrag war klar: ich sollte als Köder in dieser kleinen Stadt bleiben, ihn erwischen und möglichst lebend nach Deutschland zurückbringen.

Ich legte auf. Schweigend ging ich in die Pension zurück. Ich suchte mir als erstes einen Mietwagen, dann ging ich auf mein Zimmer. Ich verließ es den ganzen Tag nicht mehr.

Ich legte mich auf das breite Doppelbett. Mein Blick fiel aus dem Fenster. Ich blickte auf die Berge, die im Licht der Sonne lagen und dachte nach. Der Freund hatte mich also doch verraten. Plötzlich verstand ich einiges. Unser Verbindungsmann in Irkutsk, der ermordet worden war. Warum wir genau in die Falle am Goshun-See gelaufen waren. Wohin Hofer in Libyen verschwunden war, wußte ich immer noch nicht, aber ich verstand, warum man ihn nicht gefunden hatte. Er wollte es nicht.

Warum hatte er mich in der Wüste leben lassen? Wollte er, daß ich entkam?

Warum aber hatte er mir dann in Ostberlin, bei der Flucht, keine Falle gestellt? Ich war sicher, daß sie uns durch das ganze Land verfolgt hatten, bis zur Küste der Ostsee. Warum hatten sie nicht schon vorher zugegriffen? Als ich in dem Erdloch steckte, hätten sie mich doch problemlos schnappen können.

Ich verstand seinen Plan nicht, sollte ihn wohl auch nicht verstehen. Vielleicht aber war da auch noch ein Baustein, der das Mosaik vervollständigen würde. Irgend etwas, eine Information, die alles aufklären würde.

Ich beschloß, noch heute abend tätig zu werden. Dann schlief ich ein.

Stunden später erwachte ich. Es dämmerte, die Dunkelheit brach herein. Ich verließ mein Zimmer, ohne der Hauswirtin zu begegnen. Draußen stieg ich in meinen Mietwagen und fuhr in die Stadt.

Im letzten Licht des Tages erreichte ich die Strandpromenade, die das Zentrum des Lebens im Sommer darstellte. Menschen in Badekleidung liefen lachend über die Promenade, betraten oder verließen das Strandbad. Ich konnte ihre Freude nicht teilen, aber ich war nicht so frustriert, daß mir die schönen Mädchen nicht auffielen. Eines der Mädchen zwinkerte mir zu, ich winkte zurück. Dann ging ich weiter auf der Promenade.

Ein kleiner Park schloß sich an die Geschäfte mit den Souvenirs an. Ein Kiesweg führte zum Wasser des Millstäter Sees, an dessen westlichem Ende die Stadt Seeboden lag.

Nirgends konnte ich meinen Widersacher sehen. Ich erreichte das Ufer des Sees, setzte mich auf eine Parkbank und blickte auf das ruhige Gewässer. Vor mir war ein Anlegesteg, an dem Schiffe der weißen Flotte dieses Sees anlegen konnten. Daneben standen Boote zum Verleih.

Ich behielt die Menschen mißtrauisch im Auge. Hofer war nirgends zu sehen. Wenn unsere Vermutung richtig war, wollte er mich töten. An einem Platz wie diesem würde er das vielleicht nicht einmal versuchen, auf jeden Fall würde es ihn zwingen ein Risiko einzugehen, möglicherweise seine Deckung zu vernachlässigen. Vielleicht würde er einen Fehler machen.

Ich schlug die Beine übereinander und blinzelte in die letzten Strahlen der Sonne. Vielleicht kam er gar nicht. Schließlich kannte er mich besser, als jeder andere. Er wußte, daß auch ich ihn kannte. Er würde mißtrauisch werden, wenn ich so unbefangen am See entlang spazierte. Ich ließ meine Blicke wieder schweifen. Wenn er mich wirklich töten wollte, würde er früher oder später kommen. Unter Umständen konnte das sehr lange dauern.

Das Mädchen schritt die Treppe herab, die zum Landungssteg der Schiffe führte. Unschlüssig blickte sie auf die Boote. Wollte sie eines der Boote mieten? Da würde sie zu spät kommen. Der Vermieter hatte schon Feierabend gemacht.

Sie wandte sich um, blickte mir genau in die Augen. Sie lächelte mir zu.

Sie war hübsch. Für einen Moment vergaß ich meine Probleme, aber dann rief ich mich zur Ordnung. Ich blickte mich um. Hofer war nirgendwo zu sehen. Okay, warum nicht.

Sie kam auf mich zu.

»Machen Sie hier Urlaub? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Ich bin erst heute angekommen. Ich mache das erste Mal hier Urlaub.«

Sie nickte, dann setzte sie sich unaufgefordert neben mich.

Für einen Moment tauchte das Bild meiner Frau vor mir auf. Sie quälte mich nach dem Tod ihres Mörders nur noch selten mit ihrer Anwesenheit und ein Blick ins Gesicht des Mädchens ließ sie für heute verschwinden. Ich wollte mir mein weiteres Leben nicht von ihr diktieren lassen.

»Haben Sie heute schon etwas vor?« Mein Lächeln konnte Eisberge zum schmelzen bringen, aber das schien bei ihr gar nicht nötig.

Sie erwiderte mein Lächeln und schüttelte den Kopf.

»Sie kennen sich hier besser aus. Wo kann man hier gut essen?«

»Es gibt eine kleine Wirtschaft in einem kleinen Ort in der Nähe namens Treffling. Sie ist sehr empfehlenswert.«

Wo zum Teufel lag Treffling? Ich lächelte immer noch. Ich nickte und meinte: »Da müssen Sie mich aber führen. Ich kenne mich hier noch nicht aus.«

Ein Fehler. Ich sollte mir schleunigst eine Karte der Gegend besorgen. Eigentlich sollten wir hier nur eine Nacht bleiben, also hatten wir uns nicht mit der Gegend vertraut gemacht. Jedenfalls ich hatte das nicht getan. Was der Freund gemacht hatte, wußte ich nicht. Ich konnte aber sicher sein, das er sich schon eine Karte besorgt hatte. Vielleicht hatte er sich auch vorher schlau gemacht? Schließlich wollte er mich hier ermorden.

Ich erhob mich, als das Schweigen zwischen uns peinlich zu werden drohte. Ich bot ihr meinen Arm an.

Sie hängte sich bei mir ein. »Woher kommen Sie?«

»Aus Deutschland«, erwiderte ich ausweichend.

Sie drang nicht weiter in mich, sondern ergriff sofort wieder das Wort.

»Da komme ich auch her. Ich bin aus Frankfurt.« Sie begann, mir von sich zu erzählen.

Ich nickte an den passenden Stellen, während ich die Büsche im Auge behielt. Manfred war nicht zu sehen.

So erfuhr ich, daß sie Tochter eines reichen Vaters war. Sie war neunzehn, hieß Barbara und lebte von seinem Geld. Daher hatte sie auch eine kleine Villa, ganz in der Nähe meiner Bleibe. Ich begann, sie zu mögen.

An meinem Auto angekommen, verzog sie geringschätzig das Gesicht.

»Was haben Sie? Ist bloß ein Mietwagen.«

Sie nickte und ließ sich von mir die Tür aufhalten. Dann wies sie mir den Weg.

Es stellte sich heraus, daß wir auf der Fahrt nach Treffling meine Pension passierten. Ich blickte kurz zu dem Haus hinauf. Die Fenster zu meinem Zimmer, das zur Straße hin lag, waren geschlossen. Alles sah unverändert aus.

Die Straße führte weiter nach oben. Wir fuhren an einer Burg vorbei, die auf einem Hügel lag. Die Burg war verfallen, bestand nur noch als Ruine. Die Straße machte einen Bogen, führte dann in eine kleinen Ort. Das Mädchen schickte mich nach rechts.

Vor dem Lokal parkten wir den Wagen.

Das Essen war in der Tat vorzüglich. Für einen Moment wagte ich tatsächlich, mich zu entspannen. Wir genossen das Essen. Danach zeigte sie mir ihre Villa.

Die Nacht war sehr kurz. Zumindest für einige kostbare Argumente vergaß ich meinen ehemaligen Freund. Ich vergaß allerdings nicht, aufmerksam zu sein.

Am nächsten Tag verließ ich das Mädchen. Wir verabredeten uns für den Abend an der Strandpromenade. Sie wollte den Tag in einem Strandbad verbringen. Ich setzte sie vor dem Eingang ab.

Den Rest des Tages verbrachte ich in Spittal, ohne meinen Gegner zu sehen. Mittags nahm ich im Schloß der Stadt einen Kuchen ein, gegen Abend fuhr ich zurück nach Seeboden. Ich wollte das Mädchen an der Strandpromenade treffen. Sie war aber nicht da.

Ich stellte den Wagen auf den Parkplatz. Auf der Promenade ging ich nach Osten, auf das Strandbad zu, an dem ich sie abgesetzt hatte. Sie kam mir auch nicht entgegen und ich begann, mir Sorgen zu machen.

Ich erreichte das Bad, das idyllisch im Wald am Rande der kleinen Stadt gelegen war. Schon von weitem gewahrte ich den Menschenauflauf. Ich begann, mich ernsthaft zu sorgen.

Als ich die Menschen erreichte, drängte ich mich nach vorn, die Flüche der Menschen ignorierend. Ein Band verhinderte mein weiteres vordringen. Ein Beamter der österreichischen Gendarmerie forderte uns auf, zurückzubleiben. Im Hintergrund waren zwei Männer damit beschäftigt, ein Mädchen in einen Bleisarg zu legen. Ein Fotograf machte Bilder.

Das alles nahm ich nicht mehr wahr. Ich sah nur noch ihr Gesicht, das ich schon nach einer Nacht schätzen gelernt hatte. Es war Barbara.

Der Polizist ließ mich durch, als ich angab, das Mädchen zu kennen. Einer der Beamten nahm meine Aussage auf. Ich vernachlässigte meine Sicherheit, aber im Moment interessierte mich das nicht sehr. Wieder einmal hatte einer eine Frau getötet, die ich gern hatte. Manfred machte sich zu meinem Feind. Er kannte mich besser, als ich mich selbst kannte. Die ganze Zeit über hatte er mich beobachtet und er wußte sehr genau, wo er mich treffen konnte.

Erbarmungslos hatte er zugeschlagen.

Nachdem ich meine Aussage gemacht hatte, ging ich zu meinem Auto zurück. Ich achtete nun wieder auf meine Umgebung, genauer als sonst, denn ich wußte, daß er mir auf der Spur war. Ich mußte das Mädchen vergessen, mich ganz auf meine Aufgabe konzentrieren.

Mit dem Mietwagen fuhr ich nach Spittal. Dort suchte ich ein Campinggeschäft auf, versorgte mich mit einem Zelt und aller Ausrüstung, die man beim Campen im Freien brauchte. Die Ausrüstung verstaute ich im Wagen. Als nächste besorgte ich mir Proviant.

Zurück in meiner Pension verstaute ich mein Gepäck im Wagen und bezahlte mein Zimmer. Dann verließ ich die Stadt.

Am See entlang fuhr ich bis zu seinem Ende. Kein Auto verfolgte mich. Als ich sein Ende erreicht hatte, nahm ich die Karte zur Hand. Ich legte sie auf das Lenkrad und erforschte den Weg nach Bad Kleinkirchheim. Nach einigen Kilometern mußte ich links abbiegen und den Berg hinauffahren. Ein blaues Auto fiel mir auf, das ich schon mehrfach gesehen hatte. Ich fuhr weiter. Die Strecke führte in ein Tal und wurde sehr kurvenreich. Eine der Abzweigungen nahm ich und versteckte mich. Das blaue Auto fuhr weiter. Ich konnte nur hoffen, daß er mich nicht gesehen hatte.

Zurück nach Seeboden brachte mich der Wagen. Ich fuhr wieder nach Treffling und weiter, einem Schild folgend, auf dem ein Berg namens Tschiernock ausgeschildert war. Ich mußte an einer Schranke halten, wo sie mir einen Teil meines Geldes abknöpften. »Maut«, informierte mich der Kassierer, dann öffnete er die Schranke. Ich nannte das moderne Wegelagerei. Die Straße war schlecht, lediglich ein Kiesweg, noch nicht einmal geteert. Für was wollte der eigentlich Maut? Wollten sie den Bau einer richtigen Straße erst finanzieren?

Mein Wagen hüpfte durch die Schlaglöcher, den gewundenen, engen Weg hinauf. Ich benutzte eine der Seitenstraßen.

»Wildegger-Hütte« sagte das Schild über dem kleinen Haus. Es war verlassen und sah schon recht baufällig aus. Hier wollte ich die Nacht verbringen. Der Schlafsack landete in einer Ecke, eine der Konserven machte ich mit dem Campingkocher warm.

Dann legte ich mich in den Schlafsack.

9. Zweikampf

Der nächste Morgen weckte mich mit dem Zirpen von Grillen, dem Zwitschern von Vögeln und dem Rattern der Rotoren eines Hubschraubers. Für einen Moment fürchtete ich, den blauen Himmel der Wüste Libyens über mir zu sehen, aber als mich nicht die erwartete Hitze niederwarf, beruhigte ich mich rasch.

Ich rollte meinen Schlafsack zusammen. In der Nähe plätscherte ein kalter Bergbach ins Tal, an dem ich mich wusch. Frische Kleidung machte wieder einen Menschen aus mir. Dann räumte ich alles zusammen, bepackte mein Auto.

Ich fuhr zu Tal. Der Mann an der Schranke schöpfte keinen Verdacht. Es war ein anderer als gestern. Wenigstens etwas.

Heute wollte ich mir den Weg anschauen, den Manfred vermutlich in der ersten Nacht genommen hatte. Er führte von einem Ort Namens Lieserbrücke durch die Schlucht des reißenden Flüßchens, das Lieser hieß, nach Spittal. Im Wald war es schattig. Rechts von mir fiel der Boden des Waldes steil ab, bis zum Wasser. Teilweise war nicht einmal ein Pfad zu sehen, man mußte im Gegenteil über hölzerne Planken wandern. Nur ein Geländer aus Holz verhinderte einen Absturz.

Ich genoß den Spaziergang. Am Ortseingang von Spittal überquerte ich eine Hängebrücke, die über den Fluß zu der Uferstraße führte, die wir an unserem ersten Tag benutzt hatten.

Im Ort nahm ich eine leichte Mahlzeit zu mir, dann ging ich zurück.

Mein Wagen war noch unversehrt. Niemand hatte sich an ihm zu schaffen gemacht. Wenn doch einer versucht hätte, mir eine Überraschung zu bereiten, wäre der ganze Wagen in die Luft geflogen. Ich schaltete den Zünder der Bombe mit einer Fernsteuerung aus, dann baute ich sie auseinander. Man konnte nicht vorsichtig genug sein, schließlich kannte ich meinen Freund. Auch er kannte mich. Sonst hätte er sicher versucht, mir selbst eine Bombe in den Wagen zu legen.

Ich fuhr nach Spittal, wo ich eine Gaststätte aufsuchte. Sie hieß Antoniushöhe. Das Essen war wieder einmal vorzüglich. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte ich Glück. Der Wagen stand vor dem Restaurant, so daß ich ihn durch eines der Fenster im Auge hatte.

Schließlich brach der Abend herein. Ich parkte meinen Wagen in der Nähe der Stelle, an der jener Pfad, der an der Lieser entlangführte, aus dem Wald kam. Der Sitz der Wagens diente mir als Bett. Ich klappte ihn zurück und wickelte mich in meinen Schlafsack. Dann schlief ich ein.

Der Wagen wackelte. Ich schlug die Augen auf, wickelte mich aus dem Schlafsack und blickte aus dem Fenster. Ein Mann machte sich an der Beifahrerseite zu schaffen.

Blitzschnell hielt ich die Waffe in der Hand. Meine Finger tasteten nach dem Hebel, der die Tür öffnen sollte. Als der Mann es fast geschafft hatte, die Tür zu öffnen, riß ich die Fahrertür auf und rollte mich aus dem Wagen. Mit einem Satz war ich im Wald verschwunden.

Lautlos kauerte ich hinter einem der Bäume. Es war nicht ganz dunkel, aber ich konnte keinen Menschen an meinem Wagen sehen. Eine Bewegung in der Nähe. Mein unsichtbarer Gegner huschte zum Waldrand. Einige Meter weiter verschwand er zwischen den Bäumen.

Eine unbedachte Bewegung meinerseits und ein Zweig zerbrach unter meinen Füßen.

Ich warf mich zu Boden. Über mir schlug etwas in den Stamm des Baumes ein, Holzspäne rieselten in meinen Nacken. Ein Schalldämpfer. Das machte die Sache nicht einfacher.

Ich arbeitete mich zu dem Pfad vor. Dort richtete ich mich auf und verschwand zwischen den Bäumen. Schnell rannte ich über den Pfad, diesmal auf der Flucht vor Manfred.

Hinter mir raschelten einige Blätter. Er heftete sich auf meine Fersen.

Ich bewegte mich durch die Dunkelheit, so schnell ich konnte. Einige Mal rutschte ich beinahe die Böschung hinunter, in den Fluß. Als ich die Holzstege erreichte, wandte ich mich kurz um. Ein Schemen huschte hinter mir über den Pfad. Ich zielte kurz, ein Schuß krachte. Es schallte überlaut durch die Schlucht.

Der Schatten duckte sich, dann verschwand er im Wald. Ich lief weiter. Eine Kugel riß neben meinem Bein Splitter aus dem Holz des Steges.

Kurz vor Ende des Weges blickte ich nach oben. Über mir waren die Betonsäulen einer riesigen Brücke zu sehen. Auf ihr ruhte der Körper einer Autobahn, die als Tauernautobahn bekannt war. Sie überbrückte das Liesertal.

Ich wagte mich ein Stück unter die Brücke. Nur einige Schritte vor mir ging es fast zehn Meter in die Tiefe. Unten schäumte die Lieser an einen Felsen, der von der Straße aus betrachtet wirkte als würde er gleich abbrechen. Ich wartete.

Der Schatten tauchte auf dem Felsen auf. Es war genügend Platz hier oben, daß er mich nicht sah. Ich hob meine Waffe. Bevor ich sie in Anschlag gebracht hatte, schoß er. Er hatte mich gesehen.

Ein scharfer Ruck riß mir die Waffe aus der Hand. Ich hatte Glück gehabt, er hatte vorbeigezielt. Allerdings hatte er ausgerechnet die Waffe getroffen. Sie polterte irgendwo vor mir auf den Waldboden. Ich zögerte keine Sekunde. Sein nächster Schuß würde mich sicher töten.

Ich ließ mich fallen und löste mein Springmesser aus, das an meinem rechten Unterarm befestigt war. Der Griff des Messers schnellte in meine Hand. Ich rollte ab, faßte das Messer an seiner Spitze und zielte kurz. Es löste sich aus meiner Hand.

Ich hatte auf seine Kehle gezielt, aber in der Dunkelheit traf ich nicht. Das Messer stieß in seine Schulter. Wie ein Dämon sprang ich ihn an, brachte den verletzten Mann aus dem Gleichgewicht. Er drohte über den Rand des Felsens zu stürzen. Ein Moospolster brachte mich ins rutschen. Aneinander geklammert rutschten wir auf den Rand der Klippe zu. Aufschreiend stürzten wir ins Wasser.

Schmerzhaft prellte ich mir die Hüfte, als ich den Boden des Flusses erreichte. Der reißende Bach war nicht sehr warm, die Stromschnellen rissen mich mit sich. Ich verlor den Kontakt zu meinem Gegner. Ein Stein stand mir im Weg, ich klammerte mich daran fest. Über den Boden des Baches zog ich mich zu seinem Rand. An dieser Stelle stiegen normalerweise die Wildwasserfahrer ins Wasser, deshalb war hier nicht nur eine glatte Steinwand, die sich sonst, wegen der Uferstraße fast durch die ganze Schlucht zog, sondern eine kleine Böschung. Ich zog mich auf das Gras und erkletterte die Uferstraße.

Über die Brücke, die an dieser Stelle über den Fluß nach Seeboden führte, erreichte ich die andere Seite. Ich blickte ins Wasser, das sich aber nicht bewegte. Zögernd ging ich zurück zu dem Pfad, der direkt hinter der Brücke nach rechts in den Wald führte. Ich erreichte den Felsen. Dort suchte ich nach meiner Waffe.

Nach einigem Umhertasten hielt ich den kalten Lauf der Pistole in der Hand. Im Laufschritt rannte ich den Pfad zurück. Als ich die Holzstege erreichte, wäre ich fast gestrauchelt und wieder in den Fluß gefallen. Meine Hüfte machte mir zu schaffen. Daher verlangsamte ich das Tempo.

Nach einer halben Stunde erreichte ich den Waldrand. Das Auto stand unverändert, die Fahrertür war geöffnet. Ich stieg ein und verschloß die Tür.

Ich tastete über meine Hüfte, aber außer einem blauen Fleck schien der Sturz keine weiteren negativen Folgen gehabt zu haben. Der Stein war immerhin fast fünf Meter hoch. Ich hatte großes Glück gehabt.

Hatte Manfred dasselbe Glück gehabt?

Diese Frage würde mich sicher noch lange beschäftigen.

Ich fuhr mit dem Auto weiter und suchte mir einen anderen Schlafplatz. Der Rest der Nacht verlief ruhig. Am anderen Morgen wusch ich mich im Wasser der Lieser.

Mein Frühstück nahm ich in Seeboden an der Strandpromenade ein. Die österreichische Zeitung, die im Speiseraum auslag, kündete von den Abenteuern dieses verrückten Amerikaners in der Wüste Gobi. Mittlerweile kämpfte er mit den Machthabern der Asiatischen Föderation um ein kleines Stück Land am Goshun-See, auf dem sein kleines Schiff niedergegangen war.

Er würde wohl kaum Erfolg haben.

Oder?

Ich dachte an meinen Traum zurück, den ich an diesem See gehabt hatte. Die riesige Stadt, der große Platz mit den kugelförmigen Gebilden, kündeten eher von einem Erfolg des Fremden. Vielleicht war er doch nicht so verrückt. Er hatte sich zwar mit Amerika, mit der Asiatischen Föderation und mit einer Vielzahl anderer Staaten angelegt, aber man konnte ja nie wissen. Schließlich leistete er mittlerweile schon länger Widerstand, als jeder gedacht hätte. Vor allem, als ich gedacht hätte.

Mein Entschluß stand längst fest. Erst in diesem Moment wurde mir das klar. Ich würde dorthin gehen, egal, ob ich meinen Auftrag erfüllt hatte. Ich wußte zwar noch nicht so genau, was ich dort wollte. Aber ich würde es schon erfahren.

Mein nächstes Ziel stand damit fest. Ich würde nach Budapest reisen, hinter den Eisernen Vorhang. Von dort würde ich mich bis zur Wüste Gobi durchschlagen. Dann würde ich diesen Rhodan treffen. Wenn alles klappte. Und dieser Manfred mich nicht vorher erwischte.

Der Mietwagen brachte mich auf die Autobahn nach Klagenfurt. Von dort gedachte ich, mit leichtem Gepäck in den Zug zu steigen. Dieser Zug sollte mich nach Budapest bringen.

Als meine Planung abgeschlossen war, fuhr ich zur Autobahn. Die Tauernautobahn führte hinter Seeboden weiter bis fast zur Grenze und passierte dabei Klagenfurt.

Leider änderten sich meine Pläne schon kurz, nachdem ich die Autobahn erreicht hatte. Schuld daran war der blaue Wagen, der plötzlich hinter mir auftauchte.

Ich hatte ihn vor gar nicht langer Zeit schon einmal gesehen, er hatte mich nach Bad Kleinkirchheim verfolgt. Ich hatte vor wenigen Tagen den Verdacht gehabt, daß dieser Wagen meinen Freund und leider jetzigen Erzfeind Hofer beförderte. Heute sollte ich einen erschreckenden Beweis meiner Vermutung erhalten.

Offenbar hatte der Freund seinen Sturz auch relativ unbeschadet überstanden. Der blaue Wagen wurde im Rückspiegel größer und setzte zum Überholen an. Das Seitenfenster war offen. Hofers blutunterlaufene Augen erschienen in meinem Blickfeld, als ich den Kopf nach links drehte.

Ein Arm war in einen frischen Verband gehüllt, aber die Verletzung schien nur leicht zu sein. Immerhin lag dieser linke Arm am Lenkrad und hielt mühelos, auch bei Tempo 130, den Wagen in der Spur. Der rechte Arm aber schien unverletzt.

Ich registrierte die Waffe, deren Mündung genau auf meine Stirn zielte. Ohne nachzudenken preßte ich meinen rechten Fuß auf die Bremse. Der Wagen wippte nach vorn, als die Bremsen griffen. Ich stützte mich am Lenkrad ab, sah seinen Wagen an mir vorbeiziehen, ein Schuß krachte.

Die Kugel zischte zwischen der Windschutzscheibe und meinem Gesicht vorbei. Sie stanzte ein Loch in die rechte Seitenscheibe. Ein Spinnwebenmuster erschien auf dem Glas.

Schreckensbleich versuchte ich, meinen Wagen abzufangen. Dann gab ich Gas, setzte mich neben ihn. Er hatte die Waffe weggeworfen.

Er wollte mich von der Straße abdrängen. Ich hielt gegen, unsere Fahrzeuge trafen sich ein erstes Mal. Er wurde zur Seite gedrückt, fing seinen Wagen aber ab, bevor er in die Leitplanke krachen konnte.

Ich gab weiter Gas und versuchte, ihn hinter mir zu lassen. Ein Tunnel erschien vor mir. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste ich in die mit gelbem Licht erleuchtete Röhre. Der Freund war neben mir, aber er schaffte es nicht ganz aufzuschließen. Mittlerweile zitterte die Tachonadel bei 160 Kilometer pro Stunde. Ich beschleunigte noch weiter.

Ein Lastwagen erschien vor mir. Hofer sah seine Chance und versuchte, neben mir zu bleiben. Er versperrte mir den Weg auf die Überholspur. Der Wagen wurde immer größer. Kurz bevor ich in sein Heck krachte, endete der Tunnel. Ich riß das Steuer nach rechts und passierte den Lastwagen auf der Standspur. Der Fahrer hupte wütend, als wir beide links und rechts an ihm vorbei rasten. Ich hatte keine Zeit, mich um den Mann zu kümmern. Hofer zog sofort seinen Wagen nach rechts, und krachte mit Wucht in meine Seite, als ich gegenlenkte. Wir schlitterten einige hundert Meter Seite an Seite dahin, dann sah Manfred ein, daß er es nicht schaffen würde. Er versuchte wieder mich zu überholen.

Da! Eine Ausfahrt, aber immer noch ein Kilometer bis dahin. Manfred rückte unweigerlich immer weiter nach vorn, mein Wagen schaffte nicht mehr. Die Tachonadel stand auf 180 Kilometer pro Stunde.

Noch fünfhundert Meter und gleich würde Manfred vor mir einschwenken. Dann würde er sicher einfach abbremsen.

Die Dreihundert-Meter-Bake tauchte auf. Zweihundert Meter noch bis zur Ausfahrt und der ehemalige Freund hatte es fast geschafft. Noch hundert Meter. Dann war die Ausfahrt heran.

Manfreds Wagen zog nach rechts, obwohl er es noch nicht ganz geschafft hatte. Ich fuhr auf die Ausfahrt und bremste scharf. Fast hätte ich es nicht geschafft, aber ich hatte mehr Glück, als der Freund. Er wurde aus der Kurve geschleudert, überschlug sich dreimal und blieb dann auf dem Dach liegen. Ich steuerte den Wagen langsam um die Kurve, bremste dann endgültig ab.

Als ich den Wagen verließ, robbte Manfred gerade aus dem Seitenfenster, das gesplittert war. Mit dem Kolben der Waffe hatte er sich befreit.

Mit einem blutigen Kratzer auf der Stirn stand er auf. Er musterte mich haßerfüllt. Mich überlief es eiskalt. Was hatte ich diesem Mann nur getan? Wie lange arbeitete er schon gegen uns? War er schon unser Gegner gewesen, als er mich angeworben hatte?

Ich wandte mich ab. Über das Dach des Wagens rief ich ihm zu, daß ich einen Abschleppwagen schicken würde. Einen Moment lang grinste ich. Dann saß ich in den Wagen, schnallte mich wieder an und legte den Gang ein.

Spittal war nicht weit. Nach kurzer Zeit hatte ich die Stadt erreicht. Ich mußte ganz hindurch fahren, um zum Bahnhof zu kommen. Mir war klar, daß der Freund als erstes am Bahnhof nachsehen würde, aber ich wollte weg. So schnell, wie möglich wollte ich nach Budapest. Dort wollte ich ihm eine Falle stellen. Also mußte ich eine Spur hinterlassen. Ich würde dabei bewußt auffällig arbeiten. Er würde mit einer Falle rechnen. Ich hoffte ihn gerade deshalb überrumpeln zu können.

Der Wagen wurde auf dem Platz vor dem Bahnhof abgestellt. Er sah verbeult aus. Der Vermieter würde sich freuen. Ich stellte mein Gepäck zusammen. Ein Rucksack, genügend Kleidung, ein Zelt und ein Schlafsack. Das Geld war gut versteckt, auch der falsche Paß, der uns in den Osten bringen sollte. Auf sein Territorium.

Ich hatte keine Angst. Noch nicht.

Ich löste eine Fahrkarte, stieg in den nächsten Zug und fuhr los. Wir mußten über Wien fahren. Viele Stunden später fuhr der Zug in Budapest ein. Es herrschte tiefe Dunkelheit. Die Uhr zeigte auf die Drei.

10. Budapest

Ein Taxi brachte mich und mein Gepäck in ein Hotel, das im westlichen Teil der Stadt, in Buda, gelegen war. Es hieß Hotel Rege, war ein häßlicher Betonbau, hatte aber drei Sterne. Damit gehörte es nicht zu den besten Hotels der Stadt. Die waren auch eher an der Donau, in der Nähe des Parlaments.

Ich wollte unerkannt bleiben und hoffte, daß mich Manfred zumindest nicht im Hotel finden würde.

Ich bezog mein Zimmer, das sauber war. Es war auch nicht schlecht eingerichtet. Dann legte ich mich schlafen.

Die Nacht dauerte für mich nicht lange. Sie endete um acht Uhr morgens. So häufig waren die Züge zwischen Spittal, Wien und Budapest nicht. Ich wollte den Freund um zehn Uhr am Bahnhof erwischen. Dort würde ich ihm ein Zeichen geben. Wir mußten endlich zu einer Entscheidung kommen. Deshalb würde ich ihm einen Treffpunkt vorschlagen. Hoffentlich weigerte er sich nicht.

Mit dem Bus erreichte ich die Stadtmitte. Bei einem unserer Agenten versorgte ich mich mit einem Stadtplan und einem Wagen, der unauffällig war. Dann suchte ich wieder den Bahnhof auf.

Der Zug fuhr planmäßig ein, aber den Freund konnte ich zunächst nicht entdecken. Dafür entdeckte er mich. Er rannte plötzlich los und fiel mir dadurch auf. Ich schnitt ihm den Weg ab.

Als ich ihn erreichte, bat ich ihn stehen zu bleiben. Erstaunlicherweise gehorchte er. Er schaute mich an und schwieg.

»Wir müssen das zu Ende bringen. Wir treffen uns übermorgen, um neun Uhr abends. Auf der Margaretheninsel. Beim Hyatt.«

Das Hotel lag mitten auf der Insel und hatte einen wunderbaren Garten. Ich war schon einmal dort gewesen. Der Freund kannte den Platz. Er würde ihn ohne Schwierigkeiten finden können.

Er bestätigte auch mit einem Nicken, dann wandte er sich um. Zwei Tage hatte ich Zeit. Ich würde die Zeit nutzen.

Den Wagen ließ ich zunächst einmal stehen. Eine klapprige Untergrundbahn brachte mich ans Ufer der Donau. Ich folgte der Uferstraße, die als Fußgängerzone ausgebaut war. Zwischen dem Fluß und der Straße war der Körper der Bahn und eine kleine, aber befahrene Straße. Ich setzte mich für einen Moment auf eine der Parkbänke und ließ das Panorama der alten Stadt Buda auf mich wirken. Das Schloß, die Fischerbastei und im Vordergrund konnte ich die Kettenbrücke erkennen. Manfred sah ich nicht. Er war im Dschungel einer Großstadt untergetaucht.

Weiter ging ich, bis ich zu einer Brücke kam. Sie führte über die Donau. In ihrer Mitte zweigte eine weitere Brücke ab, die auf die Margaretheninsel führte.

Die Insel war ein einziger, wunderschöner Park. Einige kleinere Siedlungen befanden sich auf der Insel, die aber zumeist nur aus wenigen Häusern bestanden. Das Hotel, das unser Treffpunkt war, war am anderen Ende der Insel, die insgesamt eine Länge von zwölf Kilometern hatte.

Ich wanderte um die Insel, verhielt mich dabei wie ein Tourist. In der Mitte der Insel, die nur einige hundert Meter breit war, erhob sich ein kleiner Turm, oder besser eine Turmruine. Sie bewachte eine kleine Lichtung. Ohne Aufenthalt passierte ich den schönen Ort und erreichte nach einer Wanderung von eineinhalb Stunden das andere Ende der Insel.

Der große Klotz des Hyatt nahm einen großen Teil des unteren Endes der Insel ein. Das Hotel hatte einen Garten. Felsen, Wege, ein verspieltes kleines Bächlein, das in einen kleinen See mündete. Eine der Hotelwände war mit Felsen verkleidet und bildete einen kleinen Wasserfall.

Hier wollte wir uns treffen. Ich blickte mich um. Büsche umgaben den Platz. Es gab genügend Verstecke, die mir eine Zuflucht gewähren würden. Ich würde fast den ganzen Tag auf der Insel verbringen. Ich würde eine Zuflucht dringend brauchen. Schließlich wollte ich niemandem auffallen.

Ich beschloß, auf der anderen Seite der Insel wieder zurückzugehen. Schweigend machte ich mich auf den Weg.

Als ich wieder in der Stadt war, wanderte ich in der Fußgängerzone umher. Ein schönes, junges Mädchen musterte mich schon seit einiger Zeit. Sie saß auf einer Parkbank und verfolgte meinen Weg mit glühenden Blicken.

Was fanden diese jungen Dinger nur an mir? Ich war immerhin in den mittleren Jahren, was bedeutete, daß ich die vierzig knapp erreicht hatte. Noch nicht sehr lange, aber immerhin.

Außerdem mußte ich einen kühlen Kopf bewahren.

Ach, verdammt, das war mir egal. Ich schenkte ihr ein Lächeln. Sie erwiderte das Lächeln und rückte ein Stück auf der Bank zur Seite. Einladend klopfte sie auf den freien Platz.

Meine Schritte lenkten mich automatisch zu der Bank. Seit einiger Zeit stellte ich fest, daß ich immer leichter auf diese Frauen hereinfiel, wobei Frau in diesem Fall eindeutig übertrieben war.

Ich riskierte einen Seitenblick. Sie war wirklich ein Ereignis. Der Blick auf ihre langen, schlanken Beine wurde durch keine Hindernisse getrübt. Der Rock war kurz, aber elegant, sie trug eine weiße Bluse und die Jacke eines Anzugs. Mit Nadelstreifen.

Ihre schulterlangen, blonden Haare hingen in einer ordentlichen, aber offen Frisur auf ihre Schultern. Sie umschmeichelten ihr schönes Gesicht. Sie konnte höchstens zwanzig sein.

Sie war dreiundzwanzig und hatte keinen Begleiter. Schon länger nicht mehr. Außerdem war sie eine Geschäftsfrau. Sie war nicht nur schön, sondern auch intelligent und verblüffte mich mit großem Wissen. Und sie lud mich zum Essen ein. Ein Restaurant in der Stadt hatte es ihr angetan. Es war teuer, exklusiv und eindeutig nicht meine Preisklasse.

Ich sagte zu.

Wir begaben uns direkt zum Café Amerika, das eines der traditionellsten Gebäude in dieser Stadt war. Es war wunderschön. Die Wände bestanden aus Marmor. Der Kellner, der uns begrüßte, schickte uns eine Treppe hinunter. Dieser Teil des Restaurants lag tiefer als der Rest des Etablissements. Ein reiner Speisesaal, aber sehr geschmackvoll eingerichtet. Und nur für Gäste, die reserviert hatten. Sehr schnell bemerkte ich, daß diese junge Frau einen Tisch in diesem Restaurant bekommen konnte, wann immer sie wollte. Sie schien reich genug zu sein.

Das Essen, das sie bestellte, zeugte von Geschmack und einer Menge Geld auf dem Konto. Es war zwar nicht viel, wenn man es in D-Mark umrechnete, aber für die Einwohner dieses Landes stellte es fast einen Monatslohn dar.

Es war wunderbar. Sie war bezaubernd. Es war ein gelungener Abend.

Sie wollte mir ihre Wohnung zeigen. Ich sagte zu.

Eines der besten Hotels der Stadt erwartete uns. Auf seinem Dach befand sich ein kleines Penthouse. Es gehörte der jungen Dame.

Wir betraten die Lobby des Hotels und gingen zum Aufzug. Er war außen am Gebäude angebracht. Seine Außenwand bestand aus Glas. Er ermöglichte einen bezaubernden Überblick über die Stadt. Wir konnten ihn nicht genießen, aber das störte mich nicht, denn im Aufzug warf sie sich mir an den Hals. Sie schlang ein Bein um meinen Körper und atmete schwer. Sie sagte nichts. Das war auch schlecht möglich. Haben Sie schon einmal mit einer Zunge im Mund gesprochen? Natürlich. Aber nicht mit einer fremden Zunge.

Als der Aufzug den obersten Stock erreicht hatte, fuhren die Türen auf. Ich nahm das Mädchen auf die Arme. Wir gingen über den Gang. Ich stieß die Türe auf und verstauchte mir fast das Knie. Sie hatte abgeschlossen.

Lachend fischte sie ihren Schlüssel aus der Handtasche. Sie schloß die Tür auf, während ich versuchte, mein Lächeln zu bewahren. Ich war nicht King Kong. Auch wenn sie leicht wie eine Feder war, würde ich einen Stellungswechsel langsam bevorzugen.

Endlich schwang die Tür auf und ich trug sie über die Schwelle. Ein Tritt gegen die Tür und sie fiel ins Schloß. Ich trug sie zu einem schmucken Sofa. Erleichtert ließ ich sie in die Polster fallen und mich selbst dazu.

»Einen Drink?« fragte sie, als wir uns für einen Moment voneinander lösten. Ich nickte und bestellte einen doppelten Whiskey. Sie verließ mich mit einem Lächeln. So wollte ich es haben …

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie ging zu einem Tisch auf Rädern, griff nach einer Flasche aus Kristallglas und schenkte zwei Gläser voll. Der goldgelbe Whisky gluckerte leise.

Sie brachte mir eines der Gläser.

»Ein Irischer«, verriet sie mir. Ich mochte ihre Stimme. Angenehm weich, nicht zu hoch, nicht zu tief.

Sie ging zu einer Fensterfront und schob die Flügel auseinander. Die Nacht war lau. Sie trat ins Freie.

Ich folgte ihr, mein Glas in der Hand. Draußen nahm ich einen Schluck. Der Alkohol rann durch meine Kehle. Er brannte wie Feuer, und explodierte in meinem Magen. Wunderbar.

Ich stellte das Glas auf einen Gartentisch, der auf der breiten Veranda stand. Der Blick ging über die Donau, die hell erleuchtet war. Goldene Lichter reflektierten sich in dem schwarzen Wasser. Sie kamen von den Brücken, die über die Donau führten. Direkt unter uns war die Kettenbrücke hell erleuchtet.

Gegenüber erhellten Strahler das Schloß und die Fischerbastei. Ich seufzte, trat hinter das Mädchen und umarmte sie. Sie schmiegte sich an mich.

»Du gefällst mir«, flüsterte ich. Ich knabberte sanft an ihrem Ohr.

Sie kicherte und wollte sich mir entziehen. Dann drehte sie sich um. Sie nahm meine Hände und schaute mir in die Augen.

»Ich liebe diese Stadt.«

»Das kann ich verstehen.«

Ich nahm sie in die Arme. Sie sträubte sich nicht. Wir küßten uns lange.

Dann legte ich meinen Arm um sie. Gemeinsam gingen wir wieder ins Haus. Wir hielten uns im Wohnraum nicht lange auf. Sie zog mich ins Schlafzimmer. Ich warf sie aufs Bett.

Es wurde eine kurze, aber schlaflose Nacht.

Der nächste Morgen brachte ein angenehmes Erwachen. Ich strich über die seidenweichen Laken, berührte das Kissen neben mir und drehte mich um. Das Bett war leer, außer mir natürlich. Ich erhob mich und verließ den Raum. Nach einigem Suchen fand ich Natascha in der Küche. Sie kochte gerade Kaffee.

»Na, auch schon wach?«

Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Sie war wie aus dem Ei gepellt, während ich noch nach Bett aussah. Sie zeigte mir das Bad. Vorausschauend, wie sie war, hatte sie zwei Zahnbürsten auf der Ablage. Ich wusch mich und trank dann einen Kaffee mit dem Mädchen.

Wir verabredeten uns für den Abend. Im Vigadó, dem Opernhaus der Stadt, das ganz in der Nähe war, fand ein Konzert statt. Sie wollte es sehen. Sie hatte zwei Karten und ich sagte zu. Dann verabschiedete ich mich. Ich gab vor, noch Geschäfte zu haben und verließ sie mit einem Küßchen auf den Mund.

Ich suchte die nächste Station der Untergrundbahn auf. Die klapprigen Wagen brachten mich ratternd zum Bahnhof der Stadt, wo noch immer mein Wagen stand. Keiner hatte versucht, ihn aufzubrechen. Das wäre ihm auch nicht gut bekommen. Mit einer Fernbedienung, die ich in der Tasche trug, schaltete ich die Sicherheitssysteme aus. Dann kehrte ich erst einmal ins Hotel Rege zurück.

Ich warf mich auf das Bett. Erst nach vier Stunden kam ich wieder zu mir. Der Koffer mit dem doppelten Boden war das einzige Gepäckstück das ich, außer dem Rucksack, noch mitführte. Ich griff nach einer Pistole.

Danach machte ich mich auf dem Weg in die Stadt. Das Auto ließ ich allerdings stehen.

Ich wollte mehrere unserer Agenten aufsuchen, falls ich sie noch vorfinden sollte. Immerhin mußte ich davon ausgehen, daß unser ehemals bester Agent sie bereits an den Geheimdienst verraten hatte. Eigentlich mußte der Mann sterben, bevor er wirklich Schaden anrichten konnte. Was er bisher verraten hatte, konnte niemand wissen. Wahrscheinlich hatte er das gesamte Agentennetz in Osteuropa bisher noch nicht ans Messer liefern können. Aber da er jetzt enttarnt war, konnte sich das schnell ändern.

Ich wollte einen der Männer aufsuchen, die ich kannte. Eine Warnung konnte nicht schaden. Die Männer sollten sich vorsehen und vorsichtshalber schon ihre Flucht vorbereiten. Sicher war sicher.

Diesmal verzichtete ich auf das Auto. Eigentlich brauchte man ein solches in dieser Stadt nicht. Wie jede Großstadt war auch Budapests öffentliches Verkehrssystem sehr gut erschlossen.

Mit einem Bus, der nur wenige hundert Meter vom Hotel entfernt hielt, fuhr ich in die Stadt. Am Bahnhof stieg ich aus und suchte eine öffentliche Telefonzelle auf. Ich klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Ohr, kramte in meiner Tasche nach dem Zettel mit einer Nummer. Sie gehörte zu einem unserer Agenten. Ich drehte die Wählscheibe.

Nach dreimaligem Klingeln hob der Agent ab. Er meldete sich, ich nannte ihm ein Codewort. Er reagierte mit dem richtigen Wort darauf. Ich nannte ihm eine Uhrzeit und bestellte ihn zum Tierpark der Stadt Budapest, der in der Nähe des Heldenplatzes gelegen war. Ich hängte auf und machte mich auf den Weg.

Wieder benutzte ich die Untergrundbahn, aber diesmal bekam ich es fast mit der Angst zu tun. Mein Weg führte nach Osten und das bedeutete die Linie 1. Diese Linie ist die älteste der Budapester Untergrundbahn. Und das merkte man der Bahn auch an.

Sie sah alles andere als vertrauenerweckend aus. Vielmehr hatte man den Eindruck, die gelben Wagen würden gleich auseinanderfallen. Mit gemischten Gefühlen vertraute ich mich der Bahn an.

Der Zug setzte sich ruckend in Bewegung. Schnell erreichte er seine Spitzengeschwindigkeit. Das war nicht zu schnell, aber für diesen Zug reichte es. Die Wagen ratterten und schüttelten. Bei jedem Stoß befürchtete ich zu entgleisen.

Aber es ging alles gut. Der Zug erreichte die Haltestelle, bei der ich ihn verlassen mußte. Erleichtert strebte ich dem Licht der Sonne entgegen.

Ich verließ das Tunnelsystem der Stadt. Über die Straße hatte ich einen wunderbaren Blick auf den Heldenplatz. Nur eine breite Allee lag noch zwischen mir und dem Platz.

Im Vordergrund des Platzes konnte ich das Grabmal erkennen. Eine Menge Touristen standen darum herum, denn es war gerade Wachablösung. Die war zwar nicht so beeindruckend, wie die beim Buckingham Palace in London, aber als ich die Straße überquert hatte, blieb ich doch für einen Moment stehen.

Die Soldaten befolgten die Befehle ihres Anführers. Mit merkwürdig ruckhaften Bewegungen -- wie Aufziehpuppen -- hampelten sie herum, bis die zwei alten Wachen ihren Platz hinter dem Befehlshaber erreicht hatten und die neuen vor dem Grabmahl standen. Die beiden Neuen machten noch ein paar Faxen, unter anderem warfen sie sich noch gegenseitig ihre Waffen zu, dann verharrten sie, um nach wenigen Augenblicken eine ruhelose, zweistündige Wanderung um den Stein des Grabes aufzunehmen.

Ich wandte mich kopfschüttelnd ab.

Spielzeugsoldaten, dachte ich mit Galgenhumor. Leider waren die Waffen trotzdem scharf geladen.

Hinter dem Grabmahl ragte eine Säule auf, an deren Fuß Männer auf Streitwagen und den Rücken von Pferden in Bronze verewigt waren. Dahinter lagen zwei halbkreisförmige, von Torbogen unterbrochene Gebäude. In jedem Torbogen stand ein bronzener Krieger, die Anführer irgendwelcher Magyarenstämme, soweit ich wußte. Der Mann, der vor der Säule stand, war einer von den berühmtesten, so berühmt, daß eigentlich sogar ich ihn hätte kennen müssen. Leider hatte ich keine Zeit gehabt, mich mit ungarischer Geschichte zu beschäftigen.

An der Säule vorbei, zwischen den beiden halbkreisförmigen Anlagen hindurch, erreichte ich wieder eine Straße, die ich überquerte. Auf der anderen Seite war ein künstlich angelegter See, hinter dem ein kleines, schmuckes Schlößchen aufragte. Der See war nur zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Mitten durch ihn hindurch verlief eine stabile Wand, die verhinderte, daß das Wasser auf die andere Seite floß. In dem leeren Teil des Beckens standen einige Männer, die den Boden reinigten. Eine merkwürdige Art der Pflege, dachte ich. Da hätten sie gleich das ganze Becken leeren können.

Ich wandte mich nach links und umrundete den See. Unser Agent wollte mich am Tierpark erwarten; vorbei an einem Restaurant und kleinen, aber ansprechenden Häusern erreichte ich den Zoo. Er war geschlossen, aber das machte nichts. Wir wollten uns ja nicht im Zoo treffen.

Ich ging weiterhin am See entlang und musterte die Menschen auf den Parkbänken. Ich setzte mich auf eine der Bänke, auf der ein einzelner Mann saß. Auf der Bank neben uns saß ein junges Paar. Die Frau fütterte gerade einige der Tauben.

Ich steckte die Hände in die Taschen und blickte mich um. Unser Agent war nirgends zu sehen.

Ich wartete eine halbe Stunde, aber immer noch ließ er sich nicht blicken. Gleichgültig erhob ich mich. Wenn er bis jetzt nicht gekommen war, würde er wohl kaum noch erscheinen.

Ich folgte weiterhin der Rundung des kleinen Sees und betrat den Park hinter dem kleinen Schloß. Dieser Park war riesig, eine phantastische Grünanlage inmitten der Großstadt. Ich wollte ihn einmal durchqueren und dann wieder in die Stadt fahren, um den Mann noch einmal anzurufen.

Mittags um drei Uhr war der Park noch nicht sehr belebt. Erst später, wenn die arbeitende Bevölkerung ihren wohlverdienten Feierabend machte, würde es hier belebter werden. Dann würde man viele Menschen sehen können, die sich auf die Grünanlagen begaben, mit ihren Kindern spielten und die letzten Strahlen der Sonne genossen.

Ein kleiner Vergnügungspark lag vor mir. Ich durchschritt ihn und holte mir eine Currywurst an einem der Stände. Oder etwas ähnliches. Genüßlich verzehrte ich sie. Von allen Ländern des Ostens war mir Ungarn immer noch das liebste. Im Vergleich mit anderen musste man Budapest schon als modern und Weltoffen bezeichnen.

Weiter ging ich in den Park, hielt mich abseits der anderen Menschen auf den unbelebteren Wegen. Ich wollte allein sein und nachdenken.

Ich trottete dahin, bis ich plötzlich Stimmen im Unterholz hörte. Ich verließ den geteerten Weg und schlug mich in die Büsche. Ich mußte nicht weit gehen, bis ich eine kleine Lichtung erreichte. Vorsichtig spähte ich durch die Büsche auf den freien Platz.

Zwei Männer schlugen dort auf einen Dritten ein. Man roch den Geheimdienst schon von weitem, auch ohne ihre von Sonnenbrillen geschützten Augen zu sehen. Ich tat besser daran, sie nicht zu stören.

Gerade, als ich mich wieder zurückziehen wollte, erkannte ich den am Boden knienden Mann. Es war der Agent, mit dem ich mich verabredet hatte. Er stöhnte auf, als sich eine Faust in seinen Magen grub. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Ich blieb wie angewurzelt stehen, dann griff ich automatisch in die Tasche und zog die Waffe. Aus der anderen Tasche holte ich einen Schalldämpfer, den ich langsam und methodisch aufschraubte.

Dann spannte ich den Hahn, richtete die Waffe auf die Lichtung. Ich zögerte. Ich wollte sie nicht erschießen. Zu viele waren schon gestorben.

So trat ich auf die Lichtung. Die beiden feindlichen Agenten waren so beschäftigt, daß sie mich gar nicht bemerkten. Ich trat hinter den einen, der gerade einen besonders gemeinen Schwinger auf der Wange unseres Agenten landete. Der Kopf des Mannes pendelte zurück, wieder stöhnte er.

Ich drückte dem Mann meine Waffe in den Rücken.

Der andere bemerkte mich, griff in die Tasche. Ich schüttelte den Kopf, und ließ ihn einen Blick auf meine Waffe werfen. Resigniert sanken seine Schultern nach unten.

Ich zog feste Stricke aus der Tasche, die ich dem einen Mann zuwarf. Er gehorchte meinem Wink und fesselte seinen Kameraden. Ich stieß ihn zur Seite, kontrollierte seine Fesseln. Sie saßen stramm. Ich stieß den Gefesselten zu Boden.

Dann wandte ich mich dem anderen zu und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Die Fesseln schlangen sich um seine Handgelenke.

Da krachte ein Schuß und unser Agent zuckte kurz zusammen. Die Kugel schlug in seinen Körper.

Ich stieß den Mann, der vor mir stand, nach vorne in einen Dornbusch. Er fluchte wütend, als die Dornen seine Haut verletzten. Dann hechtete ich ins Gebüsch.

Ein dritter feindlicher Agent brach auf der anderen Seite durch die Büsche. Er hatte dort wohl Wache gehalten, aber aus seiner Sicht auf der falschen Seite. Und so machte ich, daß ich davonkam.

Ich brach durch das Gebüsch, rannte zurück, auf den Heldenplatz zu. Hinter mir hörte ich ein Rascheln, dann einen Schuß. Die Kugel riß ein Stück Holz aus einem Baum, dann war ich um eine Biegung verschwunden.

Keuchend blickte ich mich um. Ich hatte eine Straße erreicht, die mitten durch den Park führte. Auf der anderen Seite sah ich das Schlößchen, das ich zuvor schon gesehen hatte. Jetzt wusste ich wieder, wo ich mich befand. Die Straße, die ich erreicht hatte, führte über den Fluß. Aber auf der Brücke stand ein Polizist und ihm wollte ich nicht in die Arme laufen.

Ich rannte über die Straße, als zwei der drei Männer schreiend um die Ecke bogen. Der Dritte folgte ihnen kurz danach. Ich erhaschte einen Blick auf ihn, als ich die andere Straßenseite erreicht hatte und einen Blick über die Schulter warf. Er hatte noch einige der Dornen im Gesicht und blutete aus vielen kleinen Wunden im Gesicht und an den Händen. Ich lachte laut auf, was er mit einem wütenden Fluch kommentierte. Ich tauchte in der Einfahrt zum Hof des Schlosses unter.

Im Hof blieb ich kurz stehen, um mich zu orientieren. Auf der anderen Seite führte ein Torbogen wieder nach draußen. Ich hatte keinen Blick für die Schönheit des Hofes und des Gebäudes, das vor mir aufragte. Ich hörte Schritte in der Durchfahrt hinter mir.

Durch den Torbogen erreichte ich wieder den Park. Eine kleine, wackelige Brücke führte über einen Bach, der den See speiste. Ein Ruderboot fuhr gerade darunter hindurch, ein Liebespaar genoß die Ruhe, jedenfalls bis ich über die Brücke polterte. Sie warfen mir einen wütenden Blick hinterher, legten sich aber schnell auf den Boden, als meine Verfolger aus der Toreinfahrt rannten und sofort das Feuer eröffneten. Hinter meinen Füßen klatschten die Kugeln in den Dreck.

Meine Knie zitterten, ob vor Schwäche oder aus Angst, ich wußte es nicht. Ich wollte es auch nicht herausfinden und so rannte ich einfach weiter.

Ich folgte dem Bach auf einem Weg, der am See endete. Allerdings erreichte ich nun den Teil des Sees, der abgelassen war. Der rissige Beton lag vor mir, das Ufer, das künstlich befestigt war, war nicht steil. Das Becken war höchstens einen Meter tief.

Ich drehte mich kurz um. In einiger Entfernung rannten die Verfolger. Mittlerweile hatte der Polizist, der auf der Brücke gestanden hatte, die drei Agenten erreicht. Also hatte ich jetzt vier Verfolger.

Ich setzte alles auf eine Karte. Ich rannte die leichte Schräge des Ufers hinunter und versuchte, nicht in die Löcher des Betonbodens zu treten. Dann durchquerte ich das Bassin.

Die Arbeiter, die gerade Beton in eines der Löcher kippten, blickten mir verwundert hinterher. Sie machten aber keine Anstalten, mir zu folgen. Ich würdigte sie keines Blickes. Das gegenseitige Ufer lag nur dreißig Meter vor mir. Aber hier war es steiler und ich fand zuerst keine Möglichkeit, es zu erklimmen.

Eine Kugel riß nur wenige Zentimeter neben meinem Fuß ein Stück aus dem Beton und erinnerte mich an die Gefahr, in der ich immer noch schwebte. Ich wandte mich nach rechts, schlug einen Haken nach links und gleich wieder nach rechts. Dann sah ich endlich einen Bootsanlegesteg. Eine kleine Rampe, über die normalerweise Boote ins Wasser gelassen werden konnten, ermöglichte mir den Aufstieg. Ich rannte hinauf und bog um die Ecke.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Ich hatte das Quartier der Soldaten vor mir, die die Wachablösung am Grabmahl des unbekannten Soldaten zelebrierten. Einige der Soldaten lümmelten vor dem Eingang herum, rauchten russische Zigaretten und lachten. Als ich um die Ecke bog, verstummten sie. Sie musterten mich, als ich vorsichtig an ihnen vorbeiging, während ich versuchte, betont unauffällig zu sein. Es mißlang kläglich, auch wenn ich nicht mehr bewaffnet war. Ich hatte die Pistole einfach mit dem Schalldämpfer in die Tasche gestopft. Ich konnte sie fühlen, wie einen Stein. Sie schien zu glühen und mit rotem Blinken jedem verraten zu wollen, wo sie sich befand.

Aber natürlich blinkte sie nicht. Der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß mich die Soldaten behelligten.

Befehlsempfänger! dachte ich verächtlich. Die würden sich nur rühren, wenn ihnen einer den Befehl dazu erteilen würde.

Der Heldenplatz lag nur wenige Meter von meinem jetzigen Standort entfernt. Früher war das Haus, in dem jetzt die Soldaten waren, ein Teil der Stallungen, die zu dem Schloß gehörten. Es lag ideal für die Soldaten und so hatten sie es für ihre Zwecke ausgebaut.

Verschwitzt drängte ich mich in die Menge auf dem Platz, als ich hinter mir wieder Schreie hörte. Die Männer hatten das Bassin durchquert und schrien den Soldaten ihre Fragen zu. Als ich einen Blick über die Schulter warf, erkannte mich der Mann mit den blutigen Schrammen im Gesicht. Er brüllte wütend auf und hob die Waffe. Einer der beiden anderen drückte sie nach unten, um zu verhindern, daß der Mann einfach in die Menge schoß. Ich drängte mich rücksichtslos durch die Menschen, die mir im Weg waren.

Die drei Agenten hängten sich an mich, während der Polizist stehenblieb. Es schien ihm egal zu sein.

Ich wandte mich nach links, wo die Straße lag. Ich wollte den Eingang in die Untergrundbahn erreichen und wühlte mich weiterhin durch die Menge, die jetzt, der Straße zu, nicht mehr so dicht stand.

Ich überquerte die Straße und tauchte in den relativen Schutz des Eingangs zur U-Bahn.

Die Männer gaben die Verfolgung nicht auf und ich wartete ängstlich mit den anderen Menschen, die gerade von der Arbeit nach Hause gingen, auf den Zug. Er kam nicht.

Dafür kamen die Männer. Sie blickten sich um, sahen mich aber nicht. Ich saß auf einer Bank, verdeckt von Menschen. Sie rannten an mir vorbei und verschwanden in der Menge. Der Tunnel begann zu beben, als der Zug sich auf den Bahnsteig zu bewegte. Ich blieb sitzen und hoffte, daß die Männer nicht zurückkehren würden.

Der Zug fuhr ein. Ich blieb immer noch sitzen, bis er anhielt. Da kamen die drei Männer zurück. Sie wirkten wütend und schimpften miteinander. Die Türen fuhren auf.

Ich erhob mich mit zwei anderen, die auf der Bank gesessen hatten. In ihrem Schutz ging ich zur Tür und betrat das Innere der klapprigen Bahn. Sie schien mir jetzt tröstlich, die Rettung verheißend. Ich hatte keine Angst mehr vor der Bahn. Aber vor den Männern.

Fahr schon los, dachte ich, während ich unruhig von einem Bein aufs andere trat.

Die Türen schlugen zu, einer der drei entdeckte mich. Er kam eine Sekunde zu spät und prallte von der Scheibe ab. Wütend schlug er dagegen. Ich konnte die Wunden seines Gesichtes sehen und grinste. Das machte ihn noch wütender, aber jetzt fuhr die Bahn los. Der Mann hüpfte noch einige Meter neben dem Zug her. Er wurde immer wütender und ich befürchtete schon, er würde es mit seinen Schlägen und Fußtritten schaffen, den wackligen Zug aus den Schienen zu stoßen. Aber der Zug erwies sich als stabiler. Aufatmend lehnte ich mich an die Wand, als der wütend gestikulierende Mann in der Helligkeit des Bahnhofs verschwand. Die Dunkelheit der Tunnelröhre verschluckte uns.

11. Margareteninsel

Erleichtert streckte ich mich in der Sicherheit meines eigenen Bettes. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Aber eines wußte ich jetzt auch: wenn unsere Agenten im Untergrund nicht schon gewarnt waren, dann waren sie verloren. Hofer würde sie ans Messer liefern und wenn er wirklich so gnadenlos war, wie er bisher erschien, dann war es ohnehin schon zu spät. Das ganze Netz des BND im Osten konnte zusammenbrechen, wenn Hofer auspackte. Das wäre unser sicheres Ende.

Sicher waren unsere amerikanischen Freunde nicht weniger erfreut über das Geschehen.

Nun, mich sollte das eigentlich gar nicht mehr berühren. Ich rechnete damit, in wenigen Tagen bei Perry Rhodan zu sein. Ich wollte nur noch vorher das Problem Manfred Hofer erledigen. Das war leichter gesagt, als getan, das war mir schon klar. Aber ich konnte jetzt wohl kaum noch einen Rückzieher machen.

Eigentlich hätte ich die Zeit nutzen sollen, um zu verschwinden. Bis morgen abend hätte ich schon fast bei Rhodan sein können. Aber zum einen kannte ich meine eigene Sturheit. Ich war bei meiner Eitelkeit gepackt. Dieser Mann hatte mich schließlich an der Nase herumgeführt. Auf der anderen Seite war ich sicher, daß er sich nicht auf das Spiel eingelassen hätte, wenn er nicht sicher sein könnte, daß ich morgen auch da war.

Als mir dieser Gedanke kam, hätte mich fast der Mut verlassen. So weit war ich gekommen und plötzlich plagte mich die Angst im letzten Moment zu versagen. Ich wollte leben! Ich drehte mich in meinem Bett unruhig auf die Seite und warf einen Blick auf meine Uhr. Fast fünf. Bis um acht Uhr hatte ich noch eine Weile Zeit, dann würde das Konzert mit Natascha auf mich warten.

Dieses Mädchen! Wie ich mich auf sie schon freute. Ich verdrängte die unerfreulichen Gedanken an den einstigen Freund. Ich schloß die Augen und beschloß, noch eine Stunde zu schlafen.

Der Smoking kniff an allen Ecken und Enden, aber schließlich hatten wir uns auf solche Kleidung geeinigt. Ich fuhr mit meinem Wagen in die Stadt, überquerte eine der sechs Brücken über die Donau und bewunderte für einen Moment die Kettenbrücke, die im Licht der letzten Sonnenstrahlen besonders prächtig erstrahlte. Dann versuchte ich in dem Gewimmel einen Parkplatz zu finden, was leichter gesagt als getan war.

Als ich es endlich geschafft hatte, ging ich an der Promenade entlang, das Panorama der Burg und der Fischerbastei genießend.

Mein Weg führte mich fast bis zur Kettenbrücke, das Vigadó war am linken Ufer der Donau, zwischen der Kettenbrücke und meiner Brücke, die hinter mir lag. Vor dem Eingang des Festspielhauses blickte ich mich um. Natascha war sofort zu erkennen, ihr Abendkleid schien das prächtigste in der Menschenmenge zu sein.

Ich begrüßte sie mit einem Küßchen auf beide Wangen, das sie lächelnd erwiderte. Ohne zu reden, betraten wir das Opernhaus.

Das Konzert war schön, was aber mehr an meiner Begleitung lag, als an der Klavierbegleitung des Violinvirtuosen, der sich auf der Bühne redlich abrackerte. Zwar war er durchaus von einiger Klasse und sein Fidelbogen sah nach der Vorführung würdig zerrupft aus, aber seine Begleiterin am Klavier hatte die richtigen Tasten mehr schlecht als recht gefunden.

Trotzdem war der Applaus tosend, der Abend alles in allem gelungen. Meine Begleiterin lächelte mich an, während wir die Stufen der breiten Treppe nach unten gingen.

Auf ihren Vorschlag hin fuhren wir auf die andere Seite der Donau. Im Ortsteil Buda fuhren wir in ein prächtiges Viertel. Die Burg und die Fischerbastei lagen vor uns.

Ich parkte den Wagen und wir schritten der Matthiaskirche zu, einem neogotisch-barock anmutenden Gebäude, das ursprünglich im gotischen Stil erbaut worden war, aber über die Jahrhunderte immer wieder umgebaut worden war.

Natascha hängte sich bei mir ein, während wir durch die spärlich erleuchteten, mittelalterlich erscheinenden Gassen flanierten.

Vor einem unscheinbaren Haus gegenüber der Kirche blieben wir stehen. Das Mädchen führte mich ins Innere und geleitete mich in den Keller des Hauses. Die Stiege war eng, die Wände bestanden aus nacktem Fels.

Rustikale Stühle waren in den Kellerraum um grobe Holztische gruppiert. Wir ließen uns an einem kleinen Tisch nieder.

Ein Ober kam, der unsere Bestellung entgegennahm. Der Keller war eine gemütliche Weinstube, die Natascha beim herumstöbern in dieser Stadt entdeckt hatte. Lächelnd blickten wir uns in die Augen, während der Ober uns einen wunderbaren Tokajer servierte.

Wir stießen mit dem kräftigen, roten Wein an. Genießerisch trank ich einen Schluck, während sie mir die ungarische Form für »Prost« nahezubringen versuchte. Sie brauchte ja nicht zu wissen, wie gut mein ungarisch wirklich war.

Wir ließen den Abend bei Wein ausklingen und spazierten danach noch zur Fischerbastei. Die verspielten Türmchen waren prächtig erleuchtet. Bewundernd betrachtete ich das Bronzestandbild eines Reiters, während wir über eine Treppe auf die Brüstung schritten. Wir gingen oben auf der Balustrade entlang und spähten durch die Schießscharten auf das nächtliche, beleuchtete Budapest. Am Ende der Balustrade stand ein Turm, den wir erklommen.

Ein wunderbares Panorama erwartete uns. Direkt unter uns war die Kettenbrücke hell erleuchtet, dahinter stand das Hotel, auf dem das Penthouse meiner Begleiterin errichtet war. Links konnte man die hell erleuchteten Fassaden des ungarischen Parlamentsgebäudes erkennen, sicher das schönste Parlament der Welt.

Wir genossen den Ausblick, während ich meinen Arm um das Mädchen gelegt hatte. Irgendwie kam ich mir vor wie im Urlaub. Und wenn die tödliche Gefahr der Auseinadersetzung mit Hofer nicht gewesen wäre, dann hätte ich wohl zum ersten Mal seit Jahren richtig entspannen können. Vergessen würde ich diese Nacht in Budapest jedenfalls niemals, so lange ich lebte.

Sie wollte nie enden.

Am anderen Tag erwachte ich wieder mit dem Gefühl, nicht geschlafen zu haben. Ich verließ das Penthouse meiner neuen Freundin und begann mich schon zu fragen, ob ich hier endlich das Glück finden würde.

Aber zuerst wartete noch eine Aufgabe auf mich. Daher kehrte ich erst einmal in mein Hotel zurück, wo ich meine Pistole nachlud und einen Schalldämpfer bereit legte.

Eigentlich hätte ich mir das Hotel sparen können. Immerhin wohnte ich bei Natascha schöner und preiswerter. Aber es war besser, einen Unterschlupf zu haben. Ich konnte das Vergehen der Zeit kaum erwarten. Daher legte ich mich ins Bett, versuchte, mich zu entspannen und schlief alsbald ein.

Stunden später erwachte ich. Ich fühlte mich wohl und ging ins Hotelrestaurant, um mein Mittagessen einzunehmen. Es war vorzüglich. An die ungarischen Küche könnte ich mich gewöhnen.

Meine Ausrüstung lag längst bereit. Ich zog meine Jacke an und verstaute Waffe und Schalldämpfer darin. Dann setzte ich mir eine Sonnenbrille auf. Obwohl es erst Mittag war, wollte ich mich in die Stadt begeben. Mein erster Weg führte mich wieder in Richtung Fischerbastei. Allerdings suchte ich diesmal die Burg auf. Ich umrundete das Gebäude und erreichte auf der anderen Seite einen freien Platz. Der Weg war durch eine Mauer begrenzt, hinter der der Berg steil zum Ufer der Donau abfiel. Ich genoß das Panorama des Ortsteils Pest, der am linken Donauufer liegt. Die Kettenbrücke, das Parlament, ein vertrauter Anblick, aber doch immer wieder schön. Wenn ich den Kopf drehte, konnte ich auch die Fischerbastei und die Türme der Matthiaskirche sehen.

Nahm ich etwa Abschied? Ich horchte in mich hinein, versuchte zu ergründen, ob ich aufgrund einer Todesahnung hier stand und diese wunderbare Stadt noch einmal genau sehen wollte. Aber ich fand nichts dergleichen. Ich schüttelte verwundert den Kopf, dann vergrub ich meine Hände in der Jacke. Ich wanderte in Richtung der Fischerbastei, die im Augenblick von Touristen belagert schien. Kein Wunder, immerhin schrieben wir Juli und waren mitten in der Urlaubszeit.

Ich dachte an Perry Rhodan, der nun schon lange in der Wüste Gobi ausharrte. Er hatte seine Position mittlerweile gefestigt und einen Teil des Staatsgebiets der asiatischen Föderation aufgekauft. Sie schienen einen Stützpunkt dort errichten zu wollen, oder war es noch mehr? Es schien mir eher so, als versuchte Rhodan dort einen eigenen Staat zu gründen. Er nannte ihn selbst Dritte Macht, wie ich der Presse entnommen hatte.

Was war er, ein Visionär, der den Menschen eine neue Zukunft eröffnen würde? Oder war er einfach nur ein Verrückter?

Ich wußte es nicht. Aber ich konnte mich noch gut erinnern, wie vor nur einer Woche, bevor wir zu unserem letzten gemeinsamen Abenteuer aufgebrochen waren, Atom-Alarm für die ganze Erde gegeben worden war. Die Großmächte hatten Raketen auf das kleine Schiff des desertierten Majors der Space Force abgefeuert.

Damals waren wir in unseren Häusern geblieben, weil es ohnehin sinnlos gewesen wäre, uns irgendwo zu verstecken. Aber ich hatte gedacht, das letzte Stündlein der Erde hätte geschlagen.

Rhodan hatte uns alle verblüfft. Die Raketen waren wie harmlose Wasserbomben zu Boden gefallen und hatten nicht mehr Schaden angerichtet, als eine Mülltonne anrichten konnte, die vom World Trade Center geworfen wurde. Sie hatten lediglich kleine Mulden in den Boden gedrückt.

Damals war der Welt zum ersten Mal klargeworden, wie mächtig dieser Mann geworden war.

Seither ließen sich auch Gerüchte nicht ausrotten, daß der Major auf dem Mond Kontakte zu Außerirdischen hergestellt hätte.

Wenn ich nicht beim Geheimdienst gewesen wäre, hätte ich darüber gelacht. Aber so hatte ich Zugang zu Informationen, die das alles bestätigten. Außerirdische! Noch vor wenigen Wochen hätte die Welt über diese Annahme gelacht.

Für einen Moment stiegen mir Tränen in die Augen, wenn ich daran dachte, wie sich die Welt veränderte. Der Tod meiner Familie hatte mir gezeigt, wie schlimm tiefergehende Veränderungen sein können. Diese Erfahrungen und die Aufregung der letzten Tage, ließen mich vieles leichter nehmen, als das für die meisten Menschen war. Ich brauchte mich nur umzusehen: die fröhlich lachenden Menschenmassen an der Fischerbastei wirkten irgendwie falsch. Es schien eine aufgesetzte Fröhlichkeit zu sein, denn tief im Innern wußten diese Menschen -- ob Deutsche, Italiener, Ungarn oder was auch immer --, daß ihre Welt nach diesem Urlaub ein anderes Gesicht haben würde. Das bunte Treiben um mich diente nur der Ablenkung.

Ich wandte mich von allem ab, rannte zurück zur Burg und suchte den Schrägaufzug, der die Burg mit dem Platz vor der Kettenbrücke verband. Ich löste eine Karte und betrat die schwankende Kabine.

Während der Aufzug langsam tiefer glitt, musterte ich die Kettenbrücke, die schon so viele Veränderungen miterlebt hatte. Immer noch stand sie, auch den sogenannten Kommunismus hatte sie bisher heil überstanden.

Wie würde sie in hundert Jahren aussehen? Was würde ich darum geben, dann noch einmal hier stehen zu können und auf Budapest zu blicken!

Mit einem Rucken verhielt der Aufzug. Ich stieg aus.

Über die Kettenbrücke betrat ich wieder einmal den Stadtteil Pest. Direkt am anderen Ende stand das Hotel, in dem ich die letzten zwei Nächte verbracht hatte. Ich blickte kurz an der gläsernen Fassade nach oben, die eigentlich gar nicht in diesen so wunderschön traditionellen Stadtteil gehörte. Dann wandte ich mich nach links. Ich wanderte an der Donau entlang und kam dabei am ungarischen Parlament vorbei. Für einen Moment verlor ich mich im Anblick dieses prachtvollen Sandsteinbauwerks. Aber dieser Augenblick verging und ich passierte das Gebäude. Direkt dahinter konnte ich schon die Margarethenbrücke sehen, die mich auf die Insel führen sollte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, das es schon vier war. Lange hatte ich gebraucht, den Anblick dieser Stadt endgültig zu verinnerlichen.

Wieder fragte ich mich, ob ich den Tag überleben würde. Es war einfach nicht gut, zu lange auf etwas warten zu müssen. Wenn wenigstens Natascha bei mir gewesen wäre!

Ich betrat die Brücke und wechselte auf die Insel. Wieder nahm mich dieser Park inmitten der Stadt auf, der eigentlich noch schöner als der Park beim Schloß war. Die Geräusche der Autos hörten sich hier an wie fernes Murmeln und man hatte wirklich den Eindruck, in einer völlig anderen Welt zu sein.

Ich beschloß, auf der rechten Seite, die dem linken Ufer der Donau gegenüberlag, an das andere Ende der Insel zu gehen. Ruhiger, als ich mich eigentlich fühlte, schritt ich am Ufer entlang. Als ich wieder das verfallene Türmchen erreichte, bog ich vom Weg ab. Kurz ging ich zu dem Gebäude hinüber, wobei ich mich fragte, was ich hier eigentlich tat. Der Turm hatte keine Tür, aber die Stufen waren bewachsen.

Ich registrierte diese Tatsachen, mich auf meinen Instinkt verlassend. Vielleicht brauchte ich diesen Turm noch.

Weiter ging es, bis ich die Ruinen römischer Kastelle erreichte. Ich hielt mich zwischen den Steinen nicht auf, sondern hielt weiter auf das Hotel zu. Ich war müde. In einem Restaurant-Café ließ ich mich kurz nieder, trank einen Kaffee und genoß ein Stück Kuchen. Die Uhr zeigte schon fast sechs. Lange würde es nicht mehr dauern.

Ich suchte die Toilette auf, dann ging ich zum Garten des Hotels. Ich blickte mich kurz unter dem künstlichen Wasserfall um, sah einen Moment lang zu, wie das Wasser in den kleinen See schäumte. Ich seufzte. Dann wandte ich mich ruckartig um

Ich verließ den Garten wieder, um mich abseits davon zu verstecken. Dann wartete ich.

Die Uhr zeigte fast neun an. Ich hatte nicht die Absicht, pünktlich zu sein. Es dämmerte bereits, unter den Bäumen und im Garten des Hotels war es schon sehr dunkel.

Fünf Minuten nach neun ging ich vorsichtig zum Wasserfall. Die Menschen hatten sich weitgehend verzogen, die letzten gingen gerade aus dem Park. Ich zog meine Waffe aus der Tasche.

Wieder einmal schraubte ich den Schalldämpfer auf die Waffe und fragte mich, ob ich sie wieder benutzen mußte. Ich faßte sie fester und steckte die Waffe in den Hosenbund. Meine Hand lag in der Nähe des Kolbens.

Als ich den Wasserfall fast erreicht hatte, zog ich die Waffe.

Er war nicht da.

Feigling! dachte ich und versteckte mich im Gebüsch. Schritte waren zu hören, als jemand aus Richtung des Hotels kam. Ich hielt den Atem an.

Eine dunkle Gestalt erschien. Die Gestalt würdigte den Wasserfall keines Blickes. Der Figur nach mußte es der falsche Freund sein.

Ich trat aus dem Gebüsch.

Er sah mich sofort, machte aber keine Bewegung. Er kannte mich, sicher dachte er sich schon, daß ich mich nicht unbewaffnet in seine Nähe wagen würde.

Schweigend musterten wir uns. Die Sonne war mittlerweile fast verschwunden, so daß unsere Gesichter schon im Schatten lagen.

»Warum?« Meine Frage durchschnitt die laue Luft des schönen Sommerabends. Trotz der Wärme hatte ich kalte Hände, als ich den Hahn der Waffe spannte.

Er hörte das Klicken und verzog das Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. »Eigentlich geht es nicht um dich.«

Das war mir kein Trost, ich bedrohte ihn weiterhin wortlos mit der Waffe.

»Du warst nur im Weg.«

»Warum bist du nicht einfach im Osten geblieben, wenn du dort glücklich warst?«

»Ich hatte noch einen Auftrag. Eigentlich hätte ich mir denken können, daß sie dich schicken. Ich habe mich gewundert, daß sie mir trotz allem noch trauen.«

Er lachte. Dieser Haß, diese Verachtung, die aus seiner Stimme sprach. Was hatte ihm die Welt getan, daß er so verbittert war?

»Ich habe schlechte Nachrichten für dich. Willi Böck war nie dein Feind. Das habe nur ich dir erzählt. Hast du in den letzten Jahren nie darüber nachgedacht, daß du nur von mir weißt, daß er der Todesfahrer ist?«

Sein Lächeln wurde ausgesprochen zynisch.

»Du kennst mich doch, Hermann. Oder soll ich besser Peter sagen? Peter Wolf, du benutzt doch deinen wirklichen Namen, oder nicht?

Weißt du nicht, daß ich schon immer gerne einen getrunken habe? Wie oft haben wir gemeinsam einen großen Rausch gehabt?«

Ich starrte ihn an. Das konnte er doch nicht meinen!

Er schien meinen Gesichtsausdruck zu lesen.

»Du hast es erfaßt. Ich habe deine Frau überfahren. Willi lief mir nur günstig über den Weg. Meine neuen Herren wissen nicht, daß wir ihn nur auf meine Veranlassung jagten.«

»Du bist ja noch niederträchtiger, als ich dachte.« Ich weinte fast, beherrschte mich aber gerade noch. Dann krümmte ich langsam meinen Finger.

»Du weißt, daß das dein Todesurteil ist?«

Er grinste! Ich wurde unsicher und drehte mich unschlüssig zur Seite. Für einen kurzen Moment gewannen die Überlebensinstinkte die Oberhand über meine Gefühle. Ich ließ mich einfach ins Gebüsch kippen.

Fast gleichzeitig spürte ich einen Ruck in der Schulter. Eine Kugel hatte mich gestreift. Woher? Unwichtig. Ich rollte mich ins Gebüsch, klammerte mich an die Waffe und kroch auf der anderen Seite aus dem Gehölz. Ich stand bis zu den Knien in einem kleinen Bach, der von dem kleinen, künstlichen See zur Donau floß. Sollte ich in den Fluß?

Das Wasser neben mir spritzte auf und enthob mich weiteren Nachdenkens. Ich rannte unter die Bäume, denn ich vermutete, daß der Schütze auf dem Dach des Hotels lag. Eine saubere Falle, in die ich gelaufen war.

Ich warf mich unter die Bäume, drehte mich um. Ich wechselte die Waffe in die linke Hand. Manfred bog um die Büsche.

Ich drückte ab, konnte aber nicht erkennen, ob ich getroffen hatte. Er hatte sich wieder in Deckung geworfen. Er meldete sich auch nicht mehr, weil er erkannte, daß ich, solange ich unter den Bäumen lag, in einer besseren Position war.

Ich floh in Richtung der Ruinen. Es dauerte sehr lange, bis sie in Sicht kamen. Ich blieb unter den Bäumen, weil ich Männer auf dem Weg sah. Es war schon zehn, die Nacht war hereingebrochen. Niemand konnte mich sehen.

Lautlos versuchte ich, weiter zu kriechen. Fast schaffte ich es nicht, meine Knie schrammten schmerzhaft über den Boden. Ich biß die Zähne zusammen. Meine Linke preßte sich auf die rechte Schulter, als ich die Hand wegzog, konnte ich von der Dunkelheit schwärzlich gefärbtes Blut sehen. Ich taumelte auf die Beine und lief weiter.

Die Männer mußten mir auf den Fersen sein, aber so lange ich im Wald bleiben würde, hoffte ich unbehelligt zu bleiben.

Meine Uhr zeigte fast eins, als ich die Ruine sah. Zwischen meinem Standort und dem verfallenen Turm lag eine freie Lichtung, auf der sich einige der Männer versammelt hatten. Ich ging zum Waldrand und huschte über den Weg. Niemand sah mich. Ich rutschte zum Ufer hinunter, wo ein schmaler Weg direkt am Wasser verlief. Ich überlegte wieder, ob ich springen, durch die Donau schwimmen sollte. Aber wieder verwarf ich den Gedanken. In meinem Zustand wäre ich ertrunken.

Panik erfüllte mich, als ich Stimmen hörte. Ich tastete nach meiner Waffe aber ich fand sie nicht. Ich mußte sie verloren haben.

Verzweifelt kämpfte ich mich weiter. Die Dunkelheit wurde mittlerweile nur noch von den Lichtern der nahen und doch so unendlich fernen Großstadt erhellt. Aber auf der Insel war die Nacht vollkommen.

Eine Bewegung direkt vor mir. Ich lehnte mich an die steile Böschung und wartete. Die Männer entfernten sich und das war auch besser. Sie hatten eine Taschenlampe. Hinter mir blitzte auch ein Licht auf.

Jetzt überkam mich wirklich Angst. Meine Knie zitterten, als ich versuchte, mich wieder die Böschung hinaufzukämpfen. Ich schaffte es nicht, aber dann sah ich einen Ast. Er war klein und schwach und gehörte zu einem Busch, der oben stand. Wenn er riß, landete ich im Wasser der Donau.

Ich klammerte mich mit der Linken fest und zog mich ein Stück nach oben. Dann faßte ich mit der rechten Hand zu. Ich konnte fast nicht greifen. Ich schloß die Faust um den kleinen Ast und kämpfte mich mit der Linken weiter nach oben. So rutschte ich zentimeterweise nach vorn.

Kurz bevor mich der Lichtstrahl erreichen konnte, zog ich mich über die obere Kante und rollte einen Meter ins Innere. Die Männer unterhielten sich kaum einen Meter unter mir.

Ich spähte auf die Lichtung, deren andere Seite ich erreicht hatte. Einer der Männer kam gerade aus dem Turm. Er schüttelte den Kopf und die Männer gingen über die Lichtung.

Eine Chance! Gerade, als ich mich erheben wollte, hörte ich Schritte auf dem Weg, der kaum zehn Meter von mir entfernt war. Unter mir unterhielten sie sich, vor mir auch. Ich preßte mich an den Boden als wolle ich darin versinken. Sie sahen mich nicht. Ich wankte über den Weg, immer in der Erwartung, angerufen zu werden. Was ich dann getan hätte, ich weiß es nicht. So warf ich mich in den Eingang des Turms.

Ich schluchzte fast, als ich mich die Treppe nach oben kämpfte. Stufe für Stufe erklomm ich und als ich oben war, dämmerte der Morgen.

Mehr tot, als lebendig, sank ich zu Boden. Erschöpft schlief ich ein.

Stunden später erwachte ich aus meinem Schlaf. Ich hatte immer noch starke Schmerzen, aber es ging mir etwas besser. So schlimm konnte es eigentlich nicht sein, sonst hätte ich mich nicht mehr bewegen können. Ich begrüßte die Strahlen der Sonne, die durch eine schmale Luke hereinfielen, wie einen guten Freund. Ich lachte, als ich erkannte, daß mich das Leben wieder hatte.

Als ich mich hochstemmen wollte, brach ich vor Schwäche in die Knie. Ich stieß mir den Kopf und verlor wieder das Bewußtsein.

Als ich erneut erwachte, zeigte die Uhr fünf an. Es schien nachmittag zu sein. Ich stemmte mich hoch und rieb eine Beule an meinem Kopf, der in dem Allerlei der Schmerzen augenblicklich eine Hauptrolle spielte. Dann versuchte ich, meine Schulter zu untersuchen.

Da man sich schlecht auf den Rücken blicken kann, machte ich den Oberkörper frei und tastete nach der Wunde. Es schien nur ein Streifschuß gewesen zu sein. Eine Kruste verriet den Ort der Verletzung, aber mehr konnte ich nicht spüren.

Erleichtert atmete ich auf, als mir klar wurde, daß die Wunde auch nicht mehr blutete. Die Panik, die Schmerzen, das alles hatte Todesangst ausgelöst. Ich war erleichtert, daß es doch nicht so schlimm war.

Ich zog mich wieder an und legte mich etwas bequemer hin. Solange es hell war, konnte ich kaum fliehen. Ich wollte die Zeit mit einem kleinen Schläfchen verbringen. Diesmal gelang es mir, erholsamen Schlaf zu finden.

Gegen Mitternacht erwachte ich und machte mich auf den Weg. Die Insel schien noch länger geworden zu sein. Ich hatte nichts zu essen oder zu trinken und das nur wenige hundert Meter von einer Großstadt entfernt. Außerdem brauchte ich wahrscheinlich doch einen Arzt, auch wenn die Verletzung weit weniger schlimm war als befürchtet.

Gegen zwei Uhr hatte ich endlich wieder die Stadt erreicht und ich bewegte mich in Richtung des Hotels, in dem Natascha wohnte. Drei Uhr war fast erreicht, als ich durch den Eingang schritt. Für einen kurzen Moment riß ich mich zusammen, hielt mich gerade und schritt durch die Lobby des Hotels. Niemand beachtete mich, nur der Nachtportier nickte mir kurz zu.

Ich nickte zurück und stolperte in den Aufzug. Den obersten Knopf erreichte ich fast nicht mehr, so geschwächt war ich.

Ich hatte keinen Blick für das Panorama, das sich hinter der Scheibe des außen angebrachten Aufzugs zeigte. Erschöpft sank ich zu Boden.

Als der oberste Stock erreicht war, kam ich kaum auf die Beine. Schließlich schaffte ich es doch und kämpfte mich zur Eingangstür der Penthousewohnung. Ich klopfte verzweifelt. Nach dem dritten Klopfen zeigte sich Natascha verschlafen in der Tür.

»Wer ist denn da?« Dann erkannte sie mich. »Wie siehst du denn aus?«

»Hilf mir«, stöhnte ich.

Sie legte meinen Arm um ihre Schulter und geleitete mich zur Couch. Erschöpft sank ich in die Polster. Meine Beine schmerzten. Sofort sank ich wieder in Schlaf, obwohl ich fast den gesamten letzten Tag ohne Bewußtsein war. Die Welt erlosch für einige Stunden.

12. Verrat

Stöhnend wälzte ich mich herum. Ich fühlte weichen Stoff unter mir. Meine linke Hand vergrub sich in einem Kopfkissen.

Ich schlug die Augen auf und sah die Decke von Nataschas Schlafzimmer über mir. Der Raum war hell, die Vorhänge waren offen. Es war noch Tag. Oder war es wieder Tag?

Ich schwang meine Beine aus dem Bett, stellte sie auf den Boden und versuchte, mich zu erheben. Taumelnd kam ich auf die Füße, für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Aber schnell fing ich mich wieder.

Meine Kleider lagen auf einem Stuhl. Schnell durchwühlte ich die Taschen, weil ich befürchtete, das Mädchen habe die Waffe gefunden. Aber dann ließ ich die leichte Jacke wieder sinken. Keine Waffe mehr. Ich hatte sie auf der Flucht verloren, wenn ich mich richtig erinnerte.

Ich kleidete mich an und wollte den Raum verlassen. Das Mädchen öffnete genau in diesem Moment die Tür. Sie balancierte ein Tablett auf den Händen und erschrak fast, als sie mich angekleidet im Raum stehen sah. Sie ließ beinahe das Tablett fallen, konnte es aber im letzten Moment festhalten.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf, fragte mich, was ich da mache und wollte mich wieder ins Bett kommandieren. Ich widerstand.

»Ich habe gehofft, du würdest wenigstens mit mir frühstücken, bevor du gehst.«

Ich schüttelte den Kopf, aber als ich ihren Gesichtsausdruck sah, konnte ich nicht anders. Ich setzte mich aufs Bett, allerdings ohne mich wieder auszuziehen.

Sie setzte sich neben mich und stellte das Tablett zwischen uns.

»Nun erkläre mir doch einmal, was du gemacht hast. Du hast geblutet und du hast furchtbar ausgesehen. Daß sie dich nicht aufgehalten haben, wundert mich.«

»Ja, mich auch.«

Ich blickte an den Überresten meiner Kleider hinunter. Eigentlich waren nur die Hose und die Jacke einigermaßen heilgeblieben. Das Hemd sah schmutzig und zerrissen aus. Ich hatte einfach Glück gehabt.

»Wie lange habe ich eigentlich geschlafen, als ich bei dir gelandet bin?«

»Du hast den ganzen Tag verschlafen und die ganze Nacht.«

Ich erschrak. Also hatte mich mein mißglücktes Abenteuer fast drei Tage gekostet. Ich merkte, daß ich Hunger hatte, denn während unseres Gesprächs hatte ich bereits drei der Brötchen vernichtet. Ich griff nach einem vierten. Zum Glück hatte sie einen Korb voll bereitgestellt.

»Was hast du eigentlich gemacht? Hast du dich mit dem Geheimdienst angelegt?«

Ich verzog keine Miene, obwohl ich im ersten Moment erschrak. Konnte sie Gedanken lesen, oder wußte sie mehr, als mir lieb sein konnte? Aber wahrscheinlich war es eher ein Zufall. Ich begann schon Gespenster zu sehen. Aber das war auch kein Wunder. In den letzten Tagen hatte ich unter einem enormen Druck gestanden. Ich merkte, daß ich mich gefährlich nahe am Abgrund bewegte. Wenn nicht bald Ruhe in mein Leben einkehrte, würde ich noch verrückt werden.

»So ähnlich«, scherzte ich. »Ich bin überfallen worden. Auf dieser Insel, die ihr da mitten in der Donau habt.«

Ich lehnte mich zurück. Plötzlich hatte ich keinen Appetit mehr. Ich legte das halbe Brötchen auf das Tablett und versank in Grübeln.

Lautlos erhob sich das Mädchen, nahm das Tablett auf und verschwand mit leisen Schritten aus dem Schlafzimmer. Ich zog meine Jacke aus und bewegte mich dann nicht mehr.

Plötzlich war mir der Gedanke gekommen, wie sehr sich mein Leben in den letzten Tagen verändert hatte. Es war weniger die Gefahr, auch nicht die unmittelbare Lebensgefahr, die ich in letzter Zeit mehrfach verspürt hatte. Es waren die Umstände, die dazu geführt hatten. Ein Mann, den ich für meinen besten Freund und Partner gehalten hatte, wandte sich gegen mich und versuchte mich zu ermorden. Nicht nur das: er eröffnete mir auch noch, daß mein ganzes Leben in den letzten Jahren auf einer falschen Annahme beruhte. Nämlich der Annahme, ein feindlicher Agent Namens Willi Böck sei der Mörder meiner Familie. Mit diesem Wissen hatte er mich in den Dienst des BND geholt, mich zu einem Agenten gemacht und dafür gesorgt, daß ich mein altes, ruhiges Leben als Polizist aufgab.

Nein, ganz richtig war das auch nicht. Dieses alte Leben hatte ich eigentlich schon lange aufgegeben. Ich mußte auch hier ehrlich sein. Nach dem Tod meiner Familie war ich ein Wrack, vom Alkohol gezeichnet. Ich war nahe daran, auch mein eigenes Leben aufzugeben, als Hofer in mein Leben trat.

Er hatte mich zu einem Jagdhund gemacht. Er wußte, daß er aus mir einen besonders Guten machen konnte, wenn er mich auf den richtigen Mann ansetzte: den Mörder meiner Familie. Und so hatte ich diesen Mörder gejagt.

Plötzlich mußte ich feststellen, daß meine Rache noch gar nicht vollendet war. Ich haßte diesen Mann.

Das heißt, ich versuchte es. Ich konnte es nicht, jedenfalls nicht so, wie ich wollte. Ich verspürte nur ein Bedauern. Zu lange war der Tod dieser lieben Menschen schon her, lange genug jedenfalls, um jegliches Rachegefühl aus meinem Herzen zu tilgen. Außerdem war da noch eine Tatsache. Vor einigen Jahren war ein Mann gestorben, den ich für einen Mörder hielt. Mit ihm war auch eine Rache gestorben, die mich jahrelang gequält hatte. Ich wollte nicht mehr töten. Ich war müde.

Ich suchte ein neues Zuhause. Und ich wußte auch schon, wo ich es finden konnte. Es gab für mich nur noch eine Möglichkeit, eine augenblicklich noch sehr ferne Möglichkeit, die zu erreichen ich aber schon bald beabsichtigte.

Perry Rhodan hieß der Rufer in der Wüste, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der amerikanische Astronaut in der Wüste Gobi sollte meine Rettung sein. In diesem Moment faßte ich den Entschluß, sofort aufzubrechen. Budapest sollte schon bald hinter mir liegen.

Mein weiteres Vorgehen war klar. Ich würde noch heute aufbrechen, ohne eine neue Konfrontation mit Manfred zu suchen. Ich wußte, ab jetzt war ich auf der Flucht. Alles, was ich noch brauchte, mußte ich aus meinem Hotel holen. Aber das würde nicht lange dauern.

Ich erhob mich und zog meine Jacke an.

Ich ging zur Tür und blickte mich noch einmal in dem Raum um. Ich wußte, daß ich Natascha verlassen würde. Ich würde sie nie wieder sehen, nie wieder in diesem Zimmer mit ihr zusammen sein. Ich empfand einen Moment lang Bedauern darüber. Aber dann gab ich mir einen Ruck.

Ich drückte die Klinke nieder und betrat den Wohnraum der Penthouse-Wohnung. Ich wollte mich noch von dem Mädchen verabschieden, obwohl ich wußte, daß es ein Fehler sein würde. Eigentlich sollte ich einfach verschwinden, nur eine Fußnote in ihrem Leben bleiben. Aber ich wußte, daß ich das nicht konnte. Ich mußte sie noch einmal sehen und so suchte ich sie.

In der Küche fand ich sie schließlich. Sie blickte auf, als ich eintrat und lächelte mich an. Für einen Moment bedauerte ich meinen Entschluß, wollte ihn schon revidieren, beherrschte mich aber gerade noch. Ich würde meinen Entschluß in die Tat umsetzen, niemand konnte mich daran hindern. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen, für sie genauso, wie für mich.

»Was ist mit dir?« drang ihre sanfte Stimme in meine Gedanken. Ich nahm sie erst jetzt wieder bewußt wahr.

»Ich werde dich verlassen. Meine Zeit in Budapest ist abgelaufen.«

»Das tut mir leid.«

Sie wandte sich ab. Sie schien feuchte Augen bekommen zu haben. Sie griff nach einem Handtuch, das an der Wand hing.

Ich machte einen Schritt auf sie zu.

In diesem Moment wirbelte sie herum. Sie hatte ihre Hand, die hinter dem Körper versteckt war, in eine Schublade geschoben und zog sie nun wieder daraus hervor. In ihrer zarten Hand lag eine Pistole. Die Mündung wies genau auf mein Herz. Der Hahn war gespannt.

»Eine falsche Bewegung und ich muß dich erschießen. Ich bin nicht sehr gut mit der Waffe, also sei lieber vorsichtig. Ich verletzte dich womöglich nur, was sehr schmerzhaft für dich wäre.«

Ich blickte erschrocken auf die Waffe, unfähig, ein Glied zu rühren. Wozu hatte ich all die Gefahren der letzten Tage überstanden? Um nun durch ihre Hand zu sterben?

Wieder schien ich in eine Falle geraten zu sein. Aber was wollte diese Frau?

»Was willst du?«

»Ich bin eine Mitarbeiterin des Geheimdienstes. Unsere Begegnung war kein Zufall. Ich war auf dich angesetzt. Ich renne schon hinter dir her, seit du Budapest erreicht hast. Denkst du, Hofer war so dumm, nicht anzurufen, bevor er die Stadt erreichte?«

»Warum hast du mich dann nicht schon längst erledigt? Mußtest du dieses grausame Spiel mit mir spielen?«

Für einen Moment zitterte ihre Hand, aber als ich mich bewegte, hielt sie die Waffe sofort wieder ruhig.

»Ich liebe dich, Natascha, oder wie auch immer du heißen magst.«

»Das ist dein Pech. Man sollte sich in deinem Beruf nicht von solchen Gefühlen leiten lassen.« Trotz der harten Worte zitterte ihre Unterlippe. Sie schien verunsichert.

»Ich bin nicht immer Agent gewesen. Ich war auch mal ein Mensch.« Ich wandte meinen Kopf zur Seite. »Jetzt erscheint es mir, als liege diese Zeit Lichtjahre zurück. Was ist seitdem nur aus mir geworden?« Eine Träne stieg mir in die Augen. Ich war schon ein lausiger Agent!

Sie fuchtelte mit der Waffe und dirigierte mich ins Wohnzimmer. Dort bedeutete sie mir, mich in einen Sessel zu setzen.

Sie griff mit einer Hand nach dem Telefon, während sie mich mit der Waffe weiterhin bedrohte. Wortlos wählte sie eine Nummer, wartete dann einige Augenblicke und sagte dann einige Worte auf ungarisch. Ich verstand einige der Worte. Sie bestellte ihre Freunde. Sie sollten mich abholen.

Sie behielt mich während der ganzen Zeit im Auge. Dann legte sie auf und ließ sich auf das Sofa mir gegenüber sinken. Ich mußte die Hände auf meinen Kopf legen und in dieser unbequemen Stellung wartete ich schweigend.

Aber dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprach sie an.

»Warum hast du sie nicht schon gestern geholt, während ich geschlafen habe? Das hätte uns allen viele Schmerzen erspart.«

»Ich sollte noch warten, um noch etwas aus dir herauszubekommen. Aber du hast ja nichts gesagt.«

»Das hätte Hofer aber wissen müssen. Er kennt mich besser, als jeder andere.«

»Eben deshalb. Er weiß, wie du auf Frauen reagierst. Du hast keine Chance gegen sie. Wenn du hinter einem Weiberrock her bist, bist du nicht halb so viel wert wie sonst.«

»Wie bitte?« Ich traute meinen Ohren kaum. »Wie meinst du das?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Sie haben mich nicht so weit eingeweiht. Alles weiß ich nicht. Aber soweit ich verstanden habe, hast du eine ganz besondere Fähigkeit. Deshalb hat Hofer dich zum Geheimdienst geholt. Er sollte dich anwerben. Aber du hast dich nicht auf solche Dinge eingelassen. Also sollte er dich töten. Jetzt bist du uns aber in die Falle gegangen. Vielleicht erreichen wir jetzt doch noch unser Ziel.«

Sie lächelte, aber dieses Lächeln wirkte nicht grausam. Es wirkte eher unglücklich.

»Warum erzählst du mir das alles?«

Sie schwieg.

»Seien wir doch ehrlich zueinander. Du hast mir gegenüber tiefere Gefühle, als du zugeben willst.«

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber immer noch nichts.

Ich nahm meine Hände herunter. Sofort ruckte ihre Waffe wieder hoch. Ich erhob mich trotzdem und machte einen Schritt auf sie zu. Sie folgte mir mit der Waffe. Jeden Augenblick erwartete ich, daß sie den Finger krümmen würde. Ich spürte schon die Kugel, die in meine Rippen schlug und ihren Weg zu meinem Herzen bahnen würde, aber in diesem Augenblick war es mir gleichgültig.

Nicht sie auch noch, dachte ich immer wieder. Ich liebte sie wirklich, auch wenn das ein Fehler war.

Sie schoß nicht. Als ich noch einen Schritt vor ihr stand, preßte sie die Lippen aufeinander, dann ließ sie die Waffe sinken. Ich atmete innerlich auf. Ich merkte, daß ich in Schweiß gebadet war. Offenbar hatte ich doch mehr Angst gehabt, als ich mir selbst eingestehen wollte.

»Du könntest es nicht tun.«

Sie sprang auf und schlug mir mit den Fäusten gegen die Brust. »Du hast mich zum Verräter gemacht. Nun verspotte mich nicht auch noch dafür«, schrie sie mich an.

Ich wehrte ihre Hände ab. Sie lehnte sich schluchzend für einen Moment an mich, dann nahm ich sie fest in die Arme. Einige Zeit war es still.

»Du mußt verschwinden. Sonst kriegen sie dich.«

»Und was wird aus dir?«

»Kümmere dich nicht um mich. Ich werde es schon schaffen.«

»Nein. Wenn ich nicht mehr da bin, werden sie wissen, daß du mir geholfen hast. Du mußt auch verschwinden.«

»Darum werde ich mich schon selbst kümmern.«

»Komm mit mir«, sprach ich aus, was ich mir wünschte.

Sie zuckte zusammen und musterte mich. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht.«

Ich ließ ihre Hände los und ging in den Vorraum, wo der Fahrstuhl endete. Geisterhafte Leuchtziffern zeigten an, daß der Lift auf dem Weg nach oben war. Der Aufzugknopf neben der Tür leuchtete. Es war zu spät.

Ich rannte zurück, wo sie noch immer schluchzend stand. Ich nahm ihre Waffe an mich und steckte sie mir unter den Gürtel. Dann ergriff ich ihre Hand.

»Sie sind schon im Aufzug. Jeden Augenblick werden sie hier sein.«

Sie schien mich nicht zu verstehen. Ich zog sie einfach hinter mir her, auf die Terrasse, wo wir uns an diesem ersten, wunderschönen Abend miteinander bekannt gemacht hatten. Diesmal hatte ich keinen Blick für die Schönheit der Aussicht.

Es war noch sehr früh am Morgen. Auf den Straßen waren kaum Menschen zu sehen. Das Hotel schien mir entsetzlich hoch zu sein. Ich blickte mich hilfesuchend um, dann schwang ich mich über der Glastür auf das Flachdach der Wohnung. Das Mädchen zog ich hinter mir her. Sie reagierte inzwischen wieder und half mit, so daß ich nicht alles allein machen mußte.

Unten klingelte es.

Ich wartete nicht lange, sondern rannte über das Dach. Das Mädchen folgte mir schweigend.

Leider konnte ich keine Feuerleiter entdecken und unter mir verriet ein Krachen, daß die Männer die Tür aufgebrochen hatten. Schritte erklangen.

Direkt vor mir war ein halbrundes Loch im Flachdach ausgespart. Ich ging hin. Einen Meter unter mir konnte ich das Dach des Außenaufzugs entdecken.

Unschlüssig blickte ich mich um, als ich wütendes Geschrei hören konnte. Ein Mann zog sich auf das Dach. Er fuchtelte mit einer Pistole herum und rannte auf uns zu. Ich zog meine Waffe, spannte den Hahn und schoß sofort. Er taumelte auf den Rand des Daches zu. Er ruderte mit den Armen, dann verschwand er mit einem letzten Aufschrei über dem Rand des Daches.

Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Ich zögerte keine Sekunde. Irgendwo unter uns hatte wohl jemand auf den Rufknopf gedrückt. Er wollte nach unten fahren. Warum sollten wir nicht einfach mitfahren?

Ich schubste das Mädchen über den Rand des Loches, dann sprang ich hinterher. Eine Kugel pfiff über meinen Kopf hinweg. Ich spürte noch den Luftzug. Dann sah ich unter mir das Dach des Aufzugs, der sich entfernte. Aus einem Meter waren drei geworden und während ich fiel, stürzte der Aufzug noch ein Stück tiefer.

Der Aufprall war nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Ich wurde sanft abgefangen, da der Aufzug ohnehin in einer Abwärtsbewegung war.

Natascha hatte sich eng an die Wand gepreßt, um mir Platz zu machen. Leider war der Platz auf dem Dach nicht sehr groß und als sich die Kabine entfernte, wirkte er zunehmend kleiner. Als ich aufprallte, rutschte ich mit dem linken Bein weg. Der Rand der Kabine kam immer näher, während ich darauf zurutschte. Ich versuchte verzweifelt, mich festzuhalten. Meine Beine baumelten bereits über dem Rand, als ich endlich still liegenblieb.

Erleichtert zog ich meine Beine nach und setzte mich hin. Als die Kabine stoppte, wäre ich fast wieder nach vorne gekippt. Ich hielt mich fest und kroch auf die Wand zu. Erleichtert setzte ich mich neben Natascha.

Durch die Glastür, die das Stockwerk über mir kennzeichnete, blickte eine ältere Dame mit offenem Mund auf uns, die wir uns so gemütlich auf dem Dach niedergelassen hatten. Ich winkte ihr grinsend zu.

Das verging mir allerdings, als plötzlich eine Kugel neben mir in die Kabine des Lifts schlug. Ich warf mich schützend über das Mädchen und zog die Waffe. Über mir legte der Agent gerade wieder an. Der Aufzug ruckte wieder an. Dadurch ging mein Schuß fehl. Aber auch sein Schuß schlug nur harmlos in den Beton des Schachtes, in dem wir nach unten schwebten. Als unser Freund merkte, daß er nicht mehr sicher treffen würde, warf er fluchend seinen Hut hinter uns her. Das gute Stück schwebte an uns vorbei, wurde von einer Böe erfaßt und bewegte sich auf die Donau zu.

Endlich hielt die Kabine des Lifts wieder an. Links von mir sah ich das Vordach, das den Eingang des Hotels überdachte. Ich machte einen großen Schritt. Natascha sprang sofort hinter mir her. Ich fing sie auf. Für einen Moment hielt ich sie im Arm. Sie bekam weiche Knie und wäre fast gestürzt. Ich hielt sie fest.

»Du bist vollkommen verrückt«, keuchte sie atemlos.

Ich konnte sie verstehen. Auch mir klopfte noch immer das Herz. Ich war schon ein schöner Superheld.

»Mach das nie wieder mit mir.« Ihre Stimme klang schon wesentlich fester, als sie das sagte. Sie lächelte mich an, dann küßte sie mich.

Ich schob sie von mir und wies auf die Verfolger hin. Sie nickte, während ich über die Ecke des Daches kletterte. Ich half Natascha, während ich einem Portier zulächelte, der uns mit offenem Mund betrachtete. Offensichtlich waren wir heute für alle Menschen eine Überraschung.

Leider hinterließen wir auf diese Weise auch ein deutliche Spur und deshalb beeilte ich mich, in Richtung des Parkplatzes zu kommen, wo mein Wagen immer noch geparkt stehen sollte. Schnell liefen wir am Ufer der Donau entlang.

Als ich das Fahrzeug sah, legte ich meinen Arm um das Mädchen. Arm in Arm gingen wir an dem Auto vorbei. Ein Polizist stand davor und sprach gerade in ein Funkgerät. Vielleicht war es ja ganz harmlos. Aber vielleicht hatten sie den Wagen auch schon identifiziert. Im Halteverbot stand er jedenfalls nicht.

Eine Bushaltestelle in der Nähe nahm uns auf. Wir setzten uns auf eine Bank. Sie lehnte sich an mich. Wir wirkten, wie ein harmloses Liebespaar. Das hoffte ich wenigstens.

Ich konnte auf dem Parkplatz einen der Agenten erkennen. Er schien aufgeregt, blickte sich gehetzt um und fluchte dann. Er schrie seinen Kollegen an, blickte für einen Moment genau in unsere Richtung. Ich küßte Natascha, während ich ihn an ihrem linken Ohr entlang im Auge behielt. Sie legte ihren Arm um mich und verdeckte so meine auffällige Jacke.

Die beiden Männer gingen fluchend weiter.

Zehn Minuten später kam der Bus. Wir stiegen ein. Über die Donaubrücke verließen wir den Ortsteil Pest. Der Bus fuhr auf mein Hotel zu. Vorsichtshalber stiegen wir schon eine Haltestelle früher aus. Gemeinsam spazierten wir den Berg hinauf. Niemand folgte uns. Anscheinend hatten wir Manfred abgehängt. Ich blickte mich um.

Hoffentlich findet er uns nicht mehr, dachte ich. Dann verzog ich grimmig mein Gesicht. Wenn er mich nicht findet – ich finde ihn.

So dachte ich. Vielleicht schon bald.

Im Hotel ließen wir uns für eine Nacht nieder. Am Abend besuchten wir noch einmal den gemütlichen Weinkeller, den wir schon vor einigen Tagen besucht hatten. Ein nächtlicher Spaziergang ließ uns noch einen Blick auf die Donau und das hell erleuchtete Pest werfen. Ich legte meinen Arm um das Mädchen. Gemeinsam schritten wir meinem Hotel zu. Eine letzte, wunderschöne Nacht. Ich wußte nicht, warum mir diese Stadt so gefiel. Sie gehörte schließlich dem Feind. Aber wahrscheinlich war es, weil sie mir so zeitlos erschien.

»Woran denkst du?«

Ich blickte in die Augen dieser schönen Frau. Dann erzählte ich ihr von meinen Gedanken, von meinen Gefühlen. Sie lächelte. Dann nickte sie. Wortlos küßte sie mich.

So sah also der Abschied aus. Für einen kurzen Moment dachte ich an das Pflaster auf meinem Rücken. Ich war froh, daß ich noch lebte.

13. Rhodan

Unser Weg führte nach Osten. Die Reise war sehr gefährlich, da die Asiatische Föderation immer noch gegen Perry Rhodan arbeitete. Zwar kämpften sie nicht mehr offiziell gegen ihn, nachdem Rhodan ein Stück Land in der Wüste aufgekauft hatte, um als Staatengründer aktiv zu werden, aber das bedeutete ja nicht, daß die AF mit Freuden alles unterstützte, was der Fremdling auf ihrem Gebiet unternahm. Daß sich der Ami immer noch dort halten konnte, hatte eigentlich nur einen Grund: eine unbekannte Macht im Hintergrund, die alles deckte, was er unternahm.

Wer das aber war, wußten die wenigsten Menschen auf der Welt.

Als Mitarbeiter des Geheimdienstes hatte ich natürlich Informationen, wie sie nicht jedermann zugänglich waren. Auf unserem Weg nach Osten unterhielten wir uns über den Mann, den wir aufsuchen wollten. Beides zusammen ergab etwa folgendes Bild: Rhodan hatte offensichtlich auf dem Mond die Vertreter einer fremden Macht getroffen. Außerirdische, die ihm unbegreifliche technische Mittel zur Verfügung gestellt hatten. Mit Hilfe dieser Mittel hatte Rhodan vor kurzem einen alles vernichtenden Atomangriff auf seine Stellungen verhindert. Entsprechend unbeliebt hatte sich der Amerikaner natürlich gemacht. Vor allem die Vertreter der AF hatten natürlich alles unternommen, um ihn von ihrem Land zu entfernen. Dazu hatten sie ihn einem Bombardement unterzogen, das einem normalen Kriminellen nach wenigen Sekunden das Leben gekostet hätte.

Daß er immer noch lebte, zeigte, daß Rhodan wohl kaum ein gewöhnlicher Krimineller war. Entweder war er etwas besonderes, oder aber er war nicht kriminell, denn so ein Glück kann kein gewöhnlicher Mensch haben.

Ich tendierte dazu, letzteres anzunehmen.

Letztendlich war wohl auch Rhodans überlegene Macht der Grund dafür, daß ich zu ihm wollte. Wenn alles stimmte, was man berichtete, war Rhodans Enklave wohl der einzige Platz auf der Welt, wo ich vor Manfred Hofer wirklich sicher war.

Also hatten wir sehr früh am Morgen des folgenden Tages die Koffer und Rucksäcke gepackt und uns auf den Weg nach Osten gemacht. Unsere Reise würde uns durch halb Asien führen, wobei wir die UdSSR diesmal vermeiden wollten. Ich hatte die Absicht, diesmal südlich der UdSSR nach Asien zu reisen. Deshalb folgten wir zunächst einmal der Donau. Ein Vergnügungsdampfer brachte uns ans Schwarze Meer. Sein Endhafen war auf der Krimhalbinsel. Dort wechselten wir auf ein weiteres Schiff über, das uns in die Türkei brachte. In der Türkei benutzte ich meine alten Kontakte, um einige Pferde zu organisieren. Die Reittiere brachten uns bis zum kaspischen Meer. Wir setzten über, um in Turkmenistan an Land zu gehen. Beinahe hätten uns hier russische Grenztruppen erwischt. Aber wir konnten uns vom Ufer entfernen, bevor sie uns verhaften konnten.

Schließlich erreichten wir Afghanistan, wo uns Räuberbanden gefährlicher werden konnten als Regierungstruppen. Mehrmals wurde uns von Kriminellen aufgelauert und wir mußten uns unseres Lebens erwehren, aber wir schafften es.

Schließlich drangen wir über Indien nach Nepal ein, um über den Himalaja China zu betreten.

In China marschierten wir nur noch nachts. Allerdings »marschierten« wir eigentlich nicht. Wir fuhren eher mit einem Jeep, der uns gute Dienste leistete. Leider nur bis in die Nähe von Jiu-quan. In der Nähe dieses Ortes gab das Fahrzeug den Geist auf. Aber das war nicht so schlimm. Es waren nur noch fast dreihundert Kilometer, die wir zurücklegen mußten. Wir drangen nachts in eines der Dörfer ein und raubten zwei Pferde. Sicher würden wir nicht mehr lange unbehelligt bleiben. Die Truppen der Regierung der AF würden uns folgen. Aber bis dahin wollten wir schon in der Nähe von Rhodans Festung sein. Ob wir das schaffen würden?

Wir schafften es nicht. Nachdem wir hundert Kilometer nach Norden geritten waren, schmerzte mir so der Hintern, daß wir erst einmal eine Pause einlegen mußten. Wir verzehrten unsere letzten Vorräte. Verzweifelt klammerte sich Natascha an mich. Sie wollte nicht mehr. Ich konnte sie verstehen.

Es war sehr warm, da wir immer noch Sommer hatten. Zwar bewegten wir uns immer noch nachts vorwärts, aber tagsüber fanden wir kaum Schutz. Die Natur wurde immer unwirtlicher.

Nach einer Stunde setzten wir uns wieder auf unsere Pferde.

Es mußte noch eine weitere Stunde vergangen sein, als ich vom Geräusch eines Motors aufgeschreckt wurde. Mit Entsetzen stellte ich fest, daß ich eingedöst war. Natascha saß auf dem Rücken ihres Pferdes. Sie war zusammengekrümmt, ihr Kopf lag auf der Brust. Kein Wunder. Vor fast einer Woche waren wir aus Budapest geflohen. Seither hatten wir nicht sehr viel geschlafen, um so mehr waren wir in ständiger Bewegung. Irgendwann mußte der Zusammenbruch kommen. Ausgerechnet jetzt kamen Leute.

Ich stoppte mein Pferd und griff in die Zügel des anderen Reittieres. Ich sprang aus dem Sattel, zog die Pferde hinter einen Felsen und spähte dann nach den Fahrzeugen.

In weiter Entfernung konnte ich sie ausmachen.

Nataschas Aufschrei ließ mich herumfahren. Die Soldaten, die ich soeben gesehen hatte, waren offenbar nicht die einzigen, die hier unterwegs waren. Eine weitere Kompanie von Soldaten bewegte sich hinter uns genau auf unseren Standort zu. Weit und breit gab es keine anderen, besseren Verstecke.

Gehetzt sah ich mich um, aber davon wurde es auch nicht besser. Ich griff an den Sattel meines Pferdes, wo eine Maschinenpistole hing. Ich lud sie, äußerlich ruhig. Dann stellte ich mich vor das Mädchen. Natascha hatte ebenfalls eine Waffe. Wir hatten sie von einem der amerikanischen Agenten, der sie uns aus einem Waffenlager in der Nähe der nepalesischen Grenze besorgte. Wahrscheinlich würden sie uns wenig nützen.

Als die Soldaten fast heran waren, schoß ich auf das vorderste Fahrzeug. Sofort hielt der Fahrer. Die Soldaten versteckten sich hinter dem Jeep, während andere Soldaten neben dem ersten Jeep parkten. Wie eine geschlossene Wand standen die Fahrzeuge vor uns.

Hinter uns klangen jetzt auch Geräusche von Motoren auf. Bald steckten wir zwischen zwei Fronten und mir wurde klar, warum sie uns nicht einfach niederschossen. Sie wußten, daß wir nur eine Möglichkeit hatten, nämlich uns zu ergeben.

Ich reagierte schnell, nachdem ich verstanden hatte. Ich warf die Waffe vor mir in den Sand und hob die Hände.

»Bist du verrückt? Sie werden uns töten.«

»Noch sind wir nicht tot. Aber wenn wir uns nicht ergeben, dann ganz sicher. Ihre Geduld wird auch nicht ewig anhalten.«

Sie preßte trotzig die Lippen aufeinander und fluchte leise vor sich hin. Dann klatschte die Maschinenpistole neben meiner in den Sand. Die Soldaten lösten sich aus ihrer Deckung. Sie stellten unsere Waffen sicher.

Dann schubsten sie uns gegen die Felsen und durchsuchten uns. Natascha stieß einen leisen Schrei aus, als einer der Männer sie grob anfaßte. Ich wollte mich herumdrehen. Einer der anderen Soldaten stieß mir den Kolben in die Nieren, daß ich in die Knie ging. Sie lachten rauh, dann befahlen sie mir aufzustehen.

Wir legten auf Geheiß der Soldaten die Hände auf die Köpfe. Sie ließen uns in eines der Fahrzeuge einsteigen. Uns gegenüber setzten sich mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer hin. Schweigend fuhren wir durch die öde Landschaft.

Nach einigen Kilometern erkannte ich die Gegend wieder. Wir waren fast drei Stunden mit Höchstgeschwindigkeit gefahren. In unserer Nähe erkannte ich einen kleinen Flughafen, eigentlich nur eine befestigte Piste in der Wüste. Vor Jahren waren wir hier gestartet, als wir unseren Einsatz in der Wüste Gobi abgeschlossen hatten.

Ich wußte, wo wir bald sein würden. Und richtig, keine drei Minuten später ragte vor uns die Festung aus dem Sand der Wüste.

Ich fluchte leise, was der Soldat mit einem Lachen quittierte. Dann befahl er mir, zu schweigen. Natascha blickte mich erstaunt an, als sie mich hörte, dann fragte sie, was denn los sei. In kurzen Worten erklärte ich ihr, woher ich die Festung kannte. Ich war noch nicht einmal fertig, als mir einer der Männer mit der Waffe drohte. Bevor er mich erschießen würde, schwieg ich lieber.

Die Sonne brannte heiß auf uns hernieder. Die Soldaten trieben uns aus den Fahrzeugen, als wir den Hof erreicht hatten. Sie trieben uns mit vorgehaltener Waffe durch den Eingang in einen Raum. Das Loch im Boden erkannte ich wieder. Es führte zu den Verließen, die ich noch von damals kannte. Wir wurden die Leiter hinunter gestoßen. Unten nahmen uns starke Hände in Empfang. Eine niedere Tür nahm uns auf. Ich wollte es nicht beschwören, aber das war wohl unser altvertrautes Loch. Die Decke war immer noch so niedrig wie damals. Nur ein schmales Fenster erhellte die kleine Kammer. Wir kauerten uns auf den Boden.

Dann erzählte ich ihr die Geschichte meines letzten Aufenthaltes in diesem gemütlichen Verließ.

Am Goshun-See war eine kleine Siedlung im Entstehen. Perry Rhodan wanderte über das Areal. Crest ging neben ihm.

»Was meinen Sie zu unserem Projekt, eine Stadt in der Wüste zu errichten?« Rhodan blickte seinen neuen Freund an, der gerade erst von seiner schweren Krankheit genesen war.

Der weißhaarige Arkonide wiegte seinen Kopf. Er richtete seine roten Augen auf die Männer, die gerade dabei waren, am See einen kleinen Bungalow zu errichten. Er sollte die Unterkunft Crests werden.

Der Arkonide lächelte. »Ich denke, daß wir bald hier in der Wüste eine große Stadt sehen werden. Vielleicht legen wir heute hier den Grundstein zu einer Stadt, in der die Zukunft der Menschheit zu Hause ist. Immer mehr Menschen werden in die Wüste kommen. Aber das wird noch viele Jahrzehnte dauern.«

Diese und ähnliche Unterhaltungen hatten die beiden Männer in den letzten Tagen schon mehrere geführt. Rhodans Plan, in der Wüste Gobi eine Stadt aufzubauen, die das Herz einer geeinten Erde werden sollte, war sehr vielversprechend. Leider waren Theorie und Praxis wie immer verschiedene Dinge. Die Großmächte kämpften immer noch gegen Rhodan. Zwar taten sie das heimlich, aber Rhodan hatte gerade die AF im Verdacht, daß sie die Grenzen blockierten. Er vermutete, daß sie Menschen daran hinderten, in die freie Zone zu gelangen.

Mit auf dem Rücken verschränkten Händen ging er vor seinem Raumschiff auf und ab, das immer noch unter einer Kuppel aus Energie lag. Das ganze Areal lag unter einer solchen Glocke. Immer noch mußten sie die Angriffe der Soldaten der AF fürchten. Rhodan brach sein grüblerisches Herumwandern ab, als einer seiner Mutanten auf ihn zukam. John Marshall war ein Telepath. Er war zu Rhodan gestoßen, als sie in Australien nach Dr. Haggard gesucht hatten. Der Arzt war im Besitz eines Medikaments zur Bekämpfung von Leukämie, das Crest dringend brauchte. Bully hatte den Telepathen bei seinem Ausflug aufgegriffen.

»Sir, ich glaube, daß die Soldaten der AF wieder einmal Menschen am Betreten unseres Staatsgebietes hindern. Ich habe soeben die Gedanken von zwei Menschen aufgefangen, die in der Nähe des Sees in einer Festung gefangengehalten werden. Vielleicht sollten wir eingreifen?«

Rhodan nickte dem Mutanten zu. Er überlegte, wie sie dieses Problem lösen konnten. Er vertröstete den Mutanten und zog sich in die Überreste der STARDUST zurück, die hinter ihm lag.

Ein chinesischer Soldat winkte mich aus dem engen Verließ. Natascha beachtete er nicht. Ich löste mich aus ihrer Umarmung und kroch durch den engen Kerker.

Der Soldat zog mich aus dem Raum. Ich kam außerhalb meines Gefängnisses auf die Beine. Der Mann stieß mir sein russisches AK 47 in den Rücken, um zu verhindern, daß ich auf dumme Gedanken kommen würde.

Ich hob meine Hände halb über den Kopf. Der Mann knurrte unwirsch. Er stieß mich vorwärts.

Der Weg war mir sehr gut bekannt. Ich war ihn nun schon mehrmals gegangen. Ich stolperte vor der Mündung des drohend auf mich gerichteten Gewehrs durch den Tunnel. Schließlich erreichte ich die Leiter, die zu der Luke führte. Wortlos begann ich nach oben zu klettern.

Oben erwarteten mich zwei weitere Soldaten. Sie bedrohten mich mit ihren Waffen. Wieder leistete ich keinen Widerstand. Angesichts der drohenden Gewehrmündungen wären solche Ideen auch purer Selbstmord gewesen.

Wir stiegen die Treppen nach oben. Vor einer Tür aus Holz machten wir Halt. Einer der Soldaten stieß die Tür auf und mich hindurch. Wortlos zupfte ich mein Jackett zurecht. Die Männer ließen mir keine Zeit, meine Kleidung weiterhin zu pflegen. Sie stießen mich auf einen Stuhl.

Einer der Uniformierten – ich identifizierte ihn als Major der asiatischen Armee, mit denen hatte ich in der Vergangenheit auch schon besonderes Glück gehabt – beugte sich über mich. Er verzog das Gesicht zu einem gemeinen Grinsen, während er seine Hände auf die Armlehnen des Stuhls stützte. Er brachte sein Gesicht ganz nahe an meines. Ich tat ihm nicht den Gefallen zurückzuweichen. Er berührte mit seiner Stirn fast die meine.

»Was wollten Sie in der Wüste?« Der Mann sprach chinesisch, das ich einigermaßen beherrschte. Immerhin zählte das Volk der Chinesen nach Milliarden. Ein Fünftel der Erdbevölkerung sprach diese Sprache. Ein Agent sollte diese Sprache beherrschen.

Ich blickte ihn trotzdem verständnislos an. Er klopfte ungeduldig mit seinen Händen auf die Armlehne und wiederholte die Worte.

»Ich verstehe kein Wort. Ich bin deutscher Staatsbürger. Ich verlange, mit meinem Konsulat zu sprechen.«

»Ah, ein Deutscher. Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie verstehen mich sehr gut. Es ist besser, Sie Antworten. Andernfalls …«

Er sprach nicht weiter. Das war auch nicht nötig. Ich kannte die Foltermethoden der Schergen der Asiatischen Föderation.

Trotzdem ignorierte ich ihn. Wieder wies ich auf meine mangelhaften Sprachkenntnisse hin. Er löste seine Hände von der Armlehne und trat zurück. Er nickte einem hinter mir stehenden Menschen zu.

Ich ahnte, was kommen würde und wappnete mich. Ein Soldat kam mit breitem Grinsen in mein Gesichtsfeld. Gleichzeitig legten sich die Arme eines anderen von hinten um mich. Ich konnte mich nicht wehren, was auch nicht gesund gewesen wäre. Immerhin waren mehrere bewaffnete Männer im Raum anwesend.

Der Chinese mit dem gemeinen Grinsen ballte die Faust. Er schlug sie in seine rechte Handfläche. Ich spannte meine Bauchmuskeln an.

Nicht zu früh, denn plötzlich bohrte sich die Faust in meinen Magen. Dank meiner schnellen Reaktion war es nicht so schlimm, trotzdem krümmte ich mich theatralisch, soweit es der andere, der mich festhielt, zuließ. Ein zweiter Schlag war schon wesentlich unangenehmer. Ich preßte die Lippen aufeinander.

»Nun? Wollen Sie jetzt reden?«

Ich schaute in sein Gesicht. Er grinste überheblich.

»Ich verstehe Sie nicht. Sagen Sie mir endlich, was Sie wollen.«

Der Major nickte dem anderen zu. Wieder wurde mein Magen das Ziel der Fäuste des Soldaten. Auf Dauer gaben auch die härtesten Bauchmuskeln nach. Langsam wurde mir übel.

Die Folter dauerte fast drei Stunden. Dann lag ich auf dem Boden. Vor mir war eine Lache meines Erbrochenen. Der Soldat stand breitbeinig über mir und wollte mir gerade ins Gesicht treten.

»Nein. Das genügt.« Die Stimme des Majors drang durch die blutigen Schleier, die vor meinen Augen wallten. »Er scheint tatsächlich unsere Sprache nicht zu kennen.«

Ich verzog keine Miene, aber innerlich grinste ich. Die Schmerzen ließen sich gleich leichter ertragen.

Der Soldat fuhr in Englisch fort: »Ich werde morgen wieder mit Ihnen reden. Dann werden Sie mir alles erzählen. Ich will wissen, was Sie in der Wüste verloren haben. Wie sind Sie in dieses Land gekommen? Und lassen Sie sich nicht einfallen, mich zu belügen. Ich würde es merken. Denken Sie darüber nach.«

Er winkte den Soldaten und gab Befehl, mich wegzuschaffen. Die Männer schleiften mich den gleichen Weg zurück, den wir schon vorher gegangen waren. Sie stießen mich durch die Tür in das Verließ. Stöhnend brach ich zusammen.

Natascha kam sofort zu mir. Besorgt legte sie eine Hand auf meinen Kopf. »Geht es dir gut?«

»Es ging schon mal besser.« Ah, es tat gut, ihre Hand zu spüren.

Rhodan blickte auf eine Karte. Als sie aus dem All gekommen waren, hatte er die unter ihnen liegende Landschaft fotografieren lassen. Landschaft konnte man das eigentlich kaum nennen. Eine Wüste. Im Zentrum des Bildes war ein See, der Goshun-See. Darum nur Sand. Einige kleinere Erhebungen, die Hügel oder sonst etwas sein konnten. Aus dieser Höhe konnte man das leider nicht sehen.

Ein Kreuz bezeichnete die Stelle, von der die Gedankenimpulse kamen. Marshall hatte das Kreuz eingezeichnet. Rhodan wollte eine Strategie entwickeln, wie sie die Gefangenen befreien konnten.

Bully blickte über Perrys Schulter. Er deutete auf das Kreuz.

»Wir sollten ein paar zuverlässige Männer nehmen und diese verdammten Chinesen platt machen.« Der Mann mit den roten Stoppelhaaren rieb sich die Hände. Seine Freude wurde aber von Rhodan zunichte gemacht.

»Aber Bully. Genau das werden wir nicht tun. Diese Männer sind gefährlich. Sie haben sich langsam auf unsere technischen Tricks eingestellt. Sie werden einige Überraschungen für uns haben.«

»Du könntest recht haben«, bekannte er zögernd. »Aber was sollen wir denn sonst machen? Hast du einen Plan?«

»Vielleicht. Du solltest dir von Crest einige Antigrav-Generatoren holen. Außer dir und Marshall werde noch ich dabei sein. Sonst keiner.«

»Ist das nicht zu wenig? Sie werden uns fertigmachen.«

»Wo ist deine Courage geblieben? Du wolltest sie doch platt machen. Jetzt erhältst du Gelegenheit dazu.«

Bullys Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Langsam begann er Geschmack an Rhodans Plan zu finden. Vielleicht konnten sie einige Chinesen fliegen lassen. Die Soldaten der AF hatten es nicht anders verdient. Wenn sie meinten, sie könnten die Dritte Macht an der Nase herumführen, dann würden sie ihr blaues Wunder erleben.

Ich hatte das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben. Plötzlich drang Licht durch meine geschlossenen Lider. Ich riß die Augen auf und blinzelte in die nackte Glühbirne, die über unseren Köpfen an der Decke brannte. Sie war durch ein Gitter geschützt, das Gewalttaten gegen die unschuldige Lampe massiv verhinderte.

Ich schloß stöhnend die Augen. Ich wußte, was das bedeutete. Natascha sagte zwar nichts, aber ihr Blick sagte alles. Sie wußte also auch Bescheid.

Das Licht erlosch wieder. Mehrere Minuten blieb es dunkel, dann leuchtete die Lampe wieder auf. So sollte das die ganze Nacht weitergehen. An Nachtruhe war so natürlich nicht zu denken.

Immer wieder schreckten wir hoch, blinzelten zunehmend verzweifelt in die Lampe und stöhnten. Am meisten störte mich, daß Natascha auch noch darunter leiden mußte. Aber das ließ sich kaum verhindern.

Als der Morgen graute, brannten meine Augen. Ich schüttelte die Müdigkeit ab. Es war nicht die erste durchwachte Nacht. Langsam mußte ich mich an solche Dinge doch gewöhnt haben.

Die Tür flog mit einem Krachen auf. Ein chinesischer Wachsoldat begann, lästerlich in seiner Sprache zu fluchen. Er wedelte mit einem AK 47 vor meiner Nase herum. Ich erhob mich seufzend.

Er ergriff meinen Kragen und zog mich aus meinem Verließ. Taumelnd prallte ich gegen die Wand auf der gegenüberliegenden Seite. Ich stieß mir die Nase blutig.

Wieder ging es den gleichen Gang entlang, den ich langsam schon genau kannte. Ich hätte ihn auch mit verbundenen Augen gefunden.

Zwei Männer erwarteten mich an der Luke, die in die Kellerverliese führte. Sie trieben mich über die Treppe nach oben.

Ich leistete keinen Widerstand.

Jenseits der Tür erwartete mich der gleiche Major, der mich bereits gestern verhört hatte. Er lächelte mir zu, als ich durch die Tür trat. Ich haßte ihn schon jetzt.

»Wie sehen Sie denn aus?« Sein Englisch war ausgezeichnet. Er blickte die Männer hinter mir an. »Was habt ihr mit ihm gemacht? Wir wollen doch nicht, daß unserem Ehrengast etwas passiert?« Er wischte meine Nase mit einem Tuch ab.

Ich wappnete mich gegen einen Angriff. Und tatsächlich, er wartete keine Minute, dann stieß er sein Knie in meinen Magen.

Ich klappte zusammen und stöhnte. Wieder übertrieb ich bewußt. Aber diesmal fiel er nicht darauf herein. Er griff mir in die Haare. Er zog mich hoch, bis seine Nase nur noch einen Zentimeter von meiner entfernt war.

»Na, macht's Spaß?« Er lächelte zynisch. Dann stieß er mich auf den Stuhl. »Zur Sache: Was haben Sie draußen in der Wüste gemacht? Oder wollen Sie nicht mit mir reden?«

Ich antwortet nicht. Wieder wurden meine Bauchmuskeln einer Belastungsprobe unterzogen, bis mir die Tränen in die Augen traten. Stöhnend hing ich in den Armen des Offiziers.

»Sie sollten wirklich reden. Das würde Ihrer Gesundheit sicher nicht schaden.«

»Würden Sie mir glauben … wenn ich Ihnen sage … daß wir da draußen nur Blümchen pflücken wollten?«

Seine Antwort war eindeutig. Diesmal erwischte er mich allerdings im Gesicht. Sein Ring riß meine Lippe auf. Blut tropfte auf seine Uniform.

»Jetzt versauen Sie mir auch noch die Kleidung. Wollen Sie mich ärgern?«

Ich lächelte ihn herausfordernd an. Das hätte ich aber besser nicht getan. Er deckte mich mit einer Serie von Schlägen ein. Die meisten landeten auf meiner Bauchmuskulatur. Die Übelkeit kehrte zurück.

Er hörte plötzlich auf. »Sie haben Glück. Ich will Sie nicht gleich am Anfang fertigmachen. Aber es wird eine Zeit kommen, da werden Sie mir Ihr Wissen bröckchenweise beichten.«

»Was verstehen Sie schon vom beichten?«

Mein Gesicht war blutüberströmt, was überwiegend von der Nase kam. Ein Auge schwoll gerade zu und ich konnte mich nicht mehr aufrecht halten. Meine Hände preßten sich in meinen Bauch. Aber immer noch forderte ich ihn heraus. Wurde ich eigentliche nie klug?

Glücklicherweise beließ er es mit einem Tritt in meinen Allerwertesten. Ich taumelte, dann ließ ich mich auf die Knie fallen.

Er nickte den Soldaten zu. Als Chinese war er es durchaus gewohnt, höflich und zurückhaltend zu sein. Das war allerdings nur oberflächlich. Die Männer des Majors zogen mich auf die Beine und schleppten mich in meinen Kerker zurück.

Ich konnte mich über meinen Punktsieg nicht freuen. Ich wußte, daß ich ihn noch mit viel Blut, Schweiß und Tränen bezahlen würde. Verzweiflung stieg in mir hoch. So nahe vor dem Ziel sollte ich scheitern. Ich sah keinen Ausweg mehr. Ich mußte mich wieder einmal mit der sehr realen Möglichkeit meines eigenen Todes vertraut machen.

Und wie immer, so war der Gedanke auch heute wieder schrecklich.

Die Tür des Verlieses knallte hinter mir ins Schloß. Ein Schlüssel rasselte, dann entfernten sich Schritte. Stöhnend stemmte ich mich auf die Knie hoch. Dann brach ich wieder zusammen. Zärtliche Hände griffen nach meinem Kopf, betteten ihn in den Schoß meiner wundervollen Freundin. Ich schloß die Augen. Sofort schlief ich, trotz der Schmerzen, ein.

Bully verstaute einige der Handgranaten im Gürtel. Er befestigte außerdem einen der Antigrav-Generatoren neben den Granaten. Sein Tarnanzug kleidete ihn nicht schlecht, aber seine roten Haarborsten erinnerten eher an ein Leuchtsignal.

Rhodan grinste, als er den Freund sah. Ein sandfarbenes Stirnband vervollständigte gerade die Kleidung des Dicken, wie er immer wieder scherzhaft genannt wurde. Er sah aus, wie einer dieser Recken in den klassischen Eastern-Filmen. Fehlte nur noch, daß er anfing, irgendwelche fernöstlichen Beschwörungsformeln zu brüllen.

Obwohl das wahrscheinlich gar nicht so schlecht wäre. Immerhin wirkte ein solcher Auftritt abschreckend.

John Marshall vervollständigte gerade seine Einsatzkleidung. Perry selbst war schon zum Abmarsch bereit. Außer den drei Männern würde noch eine Frau mit von der Partie sein, allerdings keine Terranerin. Die Frau in der sandfarbenen Kleidung hatte schulterlanges, weißes Haar und rote Augen. Sie gehörte dem Volk der Arkoniden an.

Rhodan blickte bewundernd auf das Farbenspiel in den hellen Haaren Thoras. Er konnte seine Zuneigung kaum verhehlen, gab sich auch keine Mühe. Als sie ihn spöttisch lächelnd anblickte, klopfte er verlegen auf die Taschen seiner Uniform. Es war natürlich alles da. Seine Reaktion bewirkte allerdings nur, daß sich Thoras Lächeln vertiefte.

Rhodan räusperte sich, dann richtete er sein Wort an die Männer der Einsatztruppe.

»Fertig, Männer?«

Er machte es nicht besser. Thora räusperte sich nun ihrerseits, und schüttelte demonstrativ den Kopf, als er sich in ihre Richtung wandte.

»Entschuldigen Sie. Meine Dame, meine Herren, sind Sie nun endlich zum Abmarsch bereit?«

Bully blinzelte verblüfft, als er die förmliche Anrede vernahm. Er verkniff sich allerdings eine Bemerkung, als er die Gesichter der Arkonidin und seines Freundes betrachtete. Er öffnete den obersten Knopf seiner Hemdbluse und unterbrach das Blickduell mit seinen Worten.

»Wir wären soweit. Aber vielleicht wollen die Herrschaften noch eine Weile weiterschäkern?«

Alle Blicke wandten sich ihm zu, was er mit einem jungenhaften Grinsen quittierte. Er spielte nervös mit der Schußwaffe in seinem Halfter. Die Soldaten der AF brauchten allerdings keine Angst um ihr Leben zu haben. Die Waffen der Menschen der Dritten Macht waren auf Betäuben gestellt.

Rhodan verkniff sich weitere Worte. Scherze entkrampften zwar die Atmosphäre, aber diese begannen allmählich peinlich zu werden. Wenigstens für ihn. Er stapfte auf den Schutzschirm zu. Zwei Jeeps standen unmittelbar vor der Barriere bereit. Perry teilte einen der Jeeps Thora und John Marshall zu, den zweiten bestieg er selbst. Bully schwang sich auf den Fahrersitz.

Die Motoren röhrten auf. Die vier Menschen winkten noch einmal zu ihren zurückbleibenden Freunden, dann verließen sie das Gebiet der Dritten Macht. Eine Lücke im Schutzschirm schloß sich hinter ihnen. Die Jeeps verschwanden in einer Staubwolke und fuhren zwischen die Felsen. Soldaten der AF waren nicht zu sehen.

Perry ließ sich davon nicht täuschen. Er wußte, daß sie irgendwo da draußen waren. Sicher beobachteten ihre Späher das Lager. Er hoffte, ohne größere Probleme zum Standort der Gehirnimpulse zu gelangen.

Die Sonne stieg höher, während sich die Jeeps nach Südosten schoben. Die Impulse waren aus fast hundert Kilometern Entfernung gekommen. Ein Kurzausflug würde es also nicht werden. Aber wenigstens auf dem Hinweg sollten sie unbehelligt bleiben.

Die Torturen nahmen kein Ende. Ich konnte kein System hinter der Folter erkennen, vor allem sah ich nicht, worauf diese Leute hinaus wollten. Der Major folterte mich mit Methode, jedesmal etwas mehr. Er nahm wenig Rücksicht auf meine Gesundheit, aber genug, um mich nicht vollständig zu zermürben. Langsam mußte er doch merken, daß er mit Brutalitäten nicht ans Ziel kommen würde.

Ich gewöhnte mich an den Rhythmus. Er wurde mir zur neuen Uhr und ich wußte nicht ob es Tag oder Nacht war. Ich rollte mich in Nataschas Armen zusammen.

Aus irgendwelchen Gründen hatten sie es nur auf mich abgesehen, meine Freundin ließen sie in Ruhe. Hoffentlich blieb das so.

Schweigend versuchte ich, zu schlafen, die ewig blinkende Lampe zu ignorieren.

Die Jeeps standen hinter einigen Felsen gut versteckt. Rhodans Männer waren bereits einige Kilometer von den Fahrzeugen entfernt. Sie lagen auf einigen Felsen, von denen sie eine gute Aussicht auf die Wüstenfestung hatten. Marshall bezeichnete sie als den Ursprungsort der Gehirnimpulse.

Rhodan spähte hinter den Felsen hervor und überlegte. Dann schlug er mit der linken Faust in seine rechte Hand.

»Wir können es uns nicht leisten, Zeit zu vergeuden. Wir müssen unseren Freunden von der AF endlich zeigen, daß sie unser neues Hoheitsgebiet respektieren müssen.«

Bully strahlte, als er seinen Freund so reden hörte. Natürlich stimmte der Rotschopf ihm voll und ganz zu. Abgesehen davon hatte er die Ruhe satt. Er sprang auf und wollte hinter seiner Deckung hervorstürmen.

Rhodan hielt ihn am Arm fest.

»Nicht so schnell, mein Freund. Wir werden uns anschleichen. Hoffentlich sehen sie uns gegen den Sand und die Felsen nicht. Sollte das der Fall sein, wird John uns sofort warnen. Dann müssen wir doch noch zum Sturmangriff ansetzen.«

Der hochgewachsene Terraner erhob sich. Er strich kurz über die kleine, blasse Narbe an seiner Nase. Dann gab er das Zeichen.

Ein Kilometer lag noch zwischen ihnen und der Festung. Leider konnten sie nicht sehen, wo ihre Gegner waren. Um das ganze Areal lief eine hohe Mauer, die wie natürlich gewachsener Fels aussah. Nur wenige Lücken durchbrachen diese Mauer.

Lautlos glitt die kleine Streitmacht der Dritten Macht aus ihrer Deckung. Sie glitten lautlos wie Schlangen über den Boden. Natürlich hätten sie, ihren überlegenen Machtmitteln vertrauend, einen Sturmangriff starten können. Aber der Terraner, der den Mut gehabt hatte, sich gegen die ganze Welt zu stellen, vertraute auf den Effekt, den eine, wenn auch kleine, Horde Krieger erzeugen würde, die plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor diesen Soldaten der AF standen.

Bully malte sich grinsend die verblüfften Gesichter aus, als sie auch schon die Mauer erreicht hatten. Direkt über ihnen kauerte ein Soldat, der die Mauer offensichtlich als Wachposten erstiegen hatte. Aber er war nicht sonderlich aufmerksam. Marshall bedeutete seinen Gefährten, daß er nichts bemerkt hatte. Er machte die Geste des Schlafens.

Das erheiterte Bully erst recht. er mußte sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Mühsam die Zähne zusammenbeißend, wartete er auf Rhodans Zeichen.

Aber sogar Perry brauchte einige Sekunden, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Dann winkte er seinen Männern zu.

Wieder hatten sie mich aus einem unruhigen Schlummer geweckt. Der ewig fluchende Soldat trieb mich wieder vor seiner AK 47 her. Nur eines war diesmal anders: Natascha begleitete uns. Der ungehobelte Chinese stieß ihr unsanft den Kolben in den Rücken, um sie zu ermuntern, schneller zu gehen. Ich wirbelte wütend herum. Leider ließ mein angeschlagener Gesundheitszustand keine schnellen Bewegungen zu, so daß ich dem Soldaten genau vor die Füße taumelte. Er grinste höhnisch und schlug mit dem Lauf seiner Waffe nach mir. Er riß meine Kopfhaut auf. Einige Blutstropfen sickerten aus meinem Scheitel.

Ich hielt mich mühsam auf den Beinen und folgte seiner Aufforderung, weiterzugehen.

Ich hatte Angst um das Mädchen. Daß sie mit uns kommen mußte, war kein gutes Zeichen. Sie wollten ihr sicher weh tun. Vielleicht hatte dieser psychopathische Major endlich erkannt, wie mir beizukommen war.

Wir wurden in das Zimmer geführt. Sie banden mich diesmal an dem Stuhl fest, auf dem ich schon mehrfach gesessen hatte.

Der Major begrüßte mich mit einem feinen Lächeln. Ich konnte nicht erkennen, was er dachte. Ich gab mir auch keine Mühe mehr.

Ich blinzelte ihn aus Augen an, die vor Müdigkeit brannten. Mein rechtes Auge war auch leicht geschwollen, es hatte einige der Schläge ins Gesicht nicht so gut vertragen. Ich war nicht einmal mehr wütend.

»Nun, mein Freund.« Wieder sprach er Englisch. »Wollen wir endlich vernünftig werden, oder lieber noch ein wenig bluten?«

Er schlug ohne weitere Worte zu. Ich stöhnte auf.

Natascha blickte mich besorgt an. Ich hoffte, daß sie wenigstens den Mund halten würde. Ich wußte nicht, ob der Major wirklich ein Geständnis haben wollte oder ob er mich nur quälen wollte. War letzteres der Fall, konnte niemand ahnen, wie er auf ein Geständnis reagieren würde.

Als ich immer noch nicht antwortete, wurde sein Grinsen gemein. Er winkte seinen Soldaten zu. Die Männer der AF drückten Natascha in den Stuhl, der mir gegenüber lag. Sie banden ihre Arme fest. Ich ahnte, was kommen würde.

Der Major stellte sich zwischen uns. »Wollen doch einmal sehen, ob du wirklich so hart bist.«

Er ballte die Hand zur Faust und baute sich vor Natascha auf.

»Was glaubst du wohl, wie ihr Gesicht nachher aussehen wird?« knurrte er über die Schulter. Er schien es zu genießen.

Ich haßte ihn. »Laß sie los. Sie kann dir nichts verraten. Sie weiß von nichts.«

Er drehte sich um. »Für wie dumm hältst du uns? Wir kennen sie natürlich. Schließlich arbeitete sie für den ungarischen Geheimdienst. Sie ist doch vor einigen Tagen geflohen. Mit einem Agenten, der aus dem Westen kommt, sagt man. Mit welcher Begründung sollte ich sie wohl verschonen?«

Ich antwortete nicht, mahlte nur mit den Zähnen. Er würde es tun. Und ich konnte es nicht verhindern.

Wieder wandte er sich ihr zu. Er ballte die Faust. »Paß genau auf. Ich werde …«

Was er tun würde, sollte für ewig sein – allerdings nicht sehr großes – Geheimnis bleiben. Bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde er von einer Explosion unterbrochen. Nach dem Knall herrschte zunächst Stille, dann erschollen chinesische Flüche durch das Fenster. Der Major zögerte nicht einmal eine Sekunde. Er sprang ans Fenster, orientierte sich mit einem Rundblick und wandte sich schnaubend um.

»Behaltet sie im Auge!« schrie er den beiden verstörten Soldaten zu. Sie reagierten nicht, was er allerdings nicht bemerkte. Er stürzte aus dem Raum.

Währenddessen war es mir gelungen, die ohnehin nicht sehr festen Fesseln durch wütendes Zerren etwas zu lockern. Sie waren allerdings immer noch zu fest. Verzweifelt zerrte ich an den Stricken, während ich beobachtete, wie einer der Männer mit bösem Grinsen das Messer zog. Der Kerl wollte gar nicht zu mir. Er steuerte auf Natascha zu.

Bully reagierte als erster auf den Wink Rhodans. Er zog eine der Handgranaten aus dem Gürtel und spähte um die Ecke. Mit befriedigtem Lächeln kehrte er zurück in die Deckung. Dann zog er den Stift aus der Granate.

Kurz wartete er, dann schleuderte er das Ei zielsicher unter einen Armeejeep, in dem niemand saß. Kein Mensch war nahe genug an dem Fahrzeug, um in zu große Gefahr zu geraten. Trotz allem wollten sie die Menschen nicht töten, wenn es sich vermeiden ließ.

Wenige Sekunden vergingen, dann zerriß ein lauter Knall die Stille, die bisher nur vom Scharren der Stiefel oder gemurmelten Worten unterbrochen wurde. Einige Augenblicke herrschte lähmendes Schweigen. Wohl jeder war für wenige Sekunden taub.

Das Gebrüll, das der rothaarige Terraner ausstieß, drang allerdings auch zu den gemarterten Trommelfellen einiger Soldaten vor. Sie blickten sich erschrocken um und wollten die Waffen hochreißen. Bully schoß und zwei der Männer sanken gelähmt zu Boden. Zielsicher holte er dann den Schläfer von der Mauer.

Marshall betäubte einen weiteren Soldaten, während Perry und Thora hinter den Freunden zum Eingang des Gebäudes stürmten. Als sie die Stufen betraten, kamen Männer aus dem Gebäude.

Sie hatten die Waffen schon erhoben, aber Thora trat einfach gegen den Arm des ersten, um ihn zu entwaffnen. Die AK 47 schlug auf den Boden. Diese Behandlung war zuviel, ein Schuß löste sich. Er traf einen der gelähmten Soldaten in die Seite.

Niemand nahm darauf Rücksicht. Das war auch kein Wunder. Einige weitere Soldaten hatten die Waffen erhoben und auch nachdem Rhodan geschossen hatte, standen immer noch vier Soldaten aufrecht.

Zwei der Männer fielen Schüssen aus Bullys und Marshalls Waffen zum Opfer. Sie prallten gegen die anderen zwei Soldaten. Die Schüsse der Männer gingen in den Boden.

Thora betäubte einen der Männer mit einem Dagorgriff, während der andere durch Rhodans Schocker zu Boden ging.

Wütend stürmten die Männer durch den nun freien Eingang.

Das Messer blitzte unter einem Sonnenstrahl auf, als der Mann es hoch über den Kopf hob. Ich hielt den Atem an, allerdings ohne in meinen Bemühungen, meine Fesseln zu lockern, nachzulassen. Das Messer stieß nach unten. Ich erwartete, Blut spritzen zu sehen, als die Klinge Natascha erreichte. Doch nichts geschah. Die Schneide grub sich in die Stricke, die das Mädchen festhielten, sie fielen zu Boden.

Der zweite Soldat gesellte sich nun zu seinem Freund. Sein Gesicht wurde von einem gemeinen Grinsen verunziert, und endlich begriff ich. Sie wollten sie nicht töten. Sie hatten anderes mit ihr vor, das allerdings nicht weniger schlimm war.

Gemeinsam rissen sie sie aus dem Sitz. Ich konnte für einen Moment Nataschas Gesicht sehen. Sie wußte ebenfalls, was ihr bevorstand.

Ich verstärkte meine Bemühungen noch und endlich gab eine der Fesseln knirschend nach. Einer der Soldaten schaute mich kurz an, konzentrierte sich dann aber wieder auf Natascha. Das war auch kein Wunder, hatte doch sein Freund die hinderliche Bluse kurzerhand mit einem Messer entfernt, Was sich da enthüllte, genügte, um den Mann abzulenken. Für eine Sekunde war ich froh über die Ablenkung, während meine rechte Hand sich vollends von den Seilen befreite.

Ich griff nach meiner anderen Hand, die immer noch an die Armlehne gefesselt war. Mittlerweile hatte der Messerschwinger auch die Hose des Mädchens geöffnet. Der Reißverschluß hing in Fetzen, und die hübschen Schenkel des Mädchens enthüllten sich. Natascha schrie auf, als einer der Soldaten grob über ihre Schenkel streichelte.

Sie wehrte sich verzweifelt. Plötzlich bekam sie eines ihrer Beine frei. In diesem Moment löste sich der letzte Knoten. Ich beugte mich zu den Beinfesseln nieder und zerrte an dem Strick.

Nataschas linkes Bein krachte zwischen die Beine eines der Soldaten. Der quiekte nur noch und hielt seinen Familienschmuck fest. Grinsend löste ich die Fesseln, dann schnellte ich aus dem Stuhl. Ich erwischte den Arm des Soldaten. In der Hand hatte er immer noch das Messer. Ich konnte mein Gleichgewicht nicht halten. Ich war viel zu geschwächt. So kippte ich einfach gegen ihn. Wir gingen gemeinsam zu Boden, während sich Natascha wegdrehte. Sie schaltete ihren Gegner, der immer noch mit seinen Schmerzen kämpfte, mit einem Tritt gegen den Kiefer aus.

Ich klammerte mich an dem Messer des Soldaten fest. Verzweifelt versuchte ich, den Mann unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang mir nicht. Er wirbelte mich fast mühelos herum und landete auf mir. Sein Messerarm drückte immer tiefer. Ich schlug gegen sein Kinn. Für einen Moment wurde er aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber dann schloß sich seine linke Hand um meine Kehle. Ich röchelte. Wie hypnotisiert starrte ich auf das Messer, das sich hoch über den Kopf meines Gegners erhob. Ich erwartete den tödlichen Stoß.

Im Inneren der Festung war es kühl und für einen Moment konnten Rhodans Begleiter fast nichts erkennen, denn ihre Augen waren zu sehr von der Wüstensonne geblendet. Sie warfen sich nach links und rechts, um irgendwelchen Schützen auszuweichen, doch niemand schoß.

Thora rollte elegant ab, landete auf den Knien und hielt die Waffe im Anschlag. Sie zögerte nur wenige Sekunden, dann griff sich ein Soldat, der eine Treppe herunterstürzte, an die Brust. Er kollerte die Stufen hinunter und lag dann still. Eine Platzwunde auf seiner Stirn blutete, aber er schien nicht schwer verletzt zu sein.

Bully blickte auf ein Loch im Boden. Die Sprossen einer Leiter blickten daraus hervor und auf diesen Sprossen erschien eine Hand. Der Kopf folgte, der Mann wollte sich aber sofort wieder zurückziehen. Es war zu spät. Bully hatte den Antigrav-Generator vom Gürtel gerissen und richtete ihn auf die Leiter aus. Sie schoß aus dem Loch und schwebte in der Luft. Der Soldat kletterte immer noch nach unten, er schien gar nicht zu bemerken, was da passierte. Als er die unterste Sprosse erreichte, rutschte er ab. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, aber er konnte den Sturz nicht mehr verhindern. Er fiel nur einen Meter tief. Aber er kam unglücklich auf. Er griff an sein Bein. Es schien verstaucht zu sein. Leider hatte er keine Gelegenheit mehr, das näher zu untersuchen. Rhodans Schocker bereitete seinen Anstrengungen, mit einer Hand nach der Waffe zu greifen, während seine andere das Bein hielt, ein Ende. Der Mann legte sich schlafen.

»Wohin?«

Rhodan blickte sich wild nach Marshall um, der auf die Treppe deutete.

Ein Mann mit der Uniform eines Majors erschien dort. Er brachte einige seiner Männer in Stellung und wollte sie schießen lassen. Er kam nicht mehr dazu, denn einer der Soldaten nach dem anderen schwebte in die Höhe. Sie ließen schreiend die Waffen fallen. Das Geschrei wurde aber von Marshall beendet, der auf die Männer feuerte. Auch Rhodan und Thora schossen, während Bully die Männer mit seiner Maschine in die richtige Position brachte. Dann stapelte er die schlafenden Soldaten vor dem Major.

Verblüfft hatte dieser zugesehen, aber plötzlich drehte er sich herum. Er rannte um die Biegung der Treppe und brachte sich in Sicherheit. Marshall fuchtelte mit der Waffe herum.

»Hinterher! Er will zu den Gefangenen. Er will sie töten!«

Das Messer blitzte noch einmal kurz auf, der Arm streckte sich. Dann spannten sich die Muskeln des Mannes. Ich schloß die Augen. Das heißt, ich wollte es, aber dann sah ich Blut auf den Lippen des Mannes. Ein großer Blutfleck malte sich auch auf seine Brust, das Messer entfiel seiner kraftlosen Hand. Nur wenige Zentimeter neben meinem Gesicht prallte es auf den Stein. Der kalte Stahl streichelte meine Wange. Der Mann kippte vornüber. Ich versuchte, ihm auszuweichen. Sein Gesicht landete neben meinem.

Natascha versuchte, die reglose Gestalt von meinem Körper zu rollen, aber der leblose Körper leistete Widerstand. Dann glitt er doch zur Seite und ich arbeitete mich unter der Leiche hervor.

Lärm auf der Treppe ließ uns aufhorchen. Ein schreiender Mann näherte sich unserem Raum. Wir blickten uns an, dann packte Natascha die Waffe fester. Sie zielte auf die Tür.

Als sie aufgerissen wurde erschien der Major. Ich hatte keinen anderen erwartet. Der Mann riß sofort die Waffe hoch. Natascha wollte schießen, aber bevor sie abdrücken konnte, seufzte der Major. Er schien sich verbeugen zu wollen, aber dann kippte er einfach nur nach vorne. Er legte sich auf den Boden. Die Waffe entglitt seinen kraftlosen Händen.

Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. In ihnen lag der ganze Haß, den er verspürte. Wieso haßte er mich so?

Die Tür wurde aufgestoßen und ich sah einen Mann, den ich nicht kannte. Dahinter eine Frau mit langen weißen Haaren und roten Augen. Den Mann hinter ihr erkannte ich allerdings. Ich hatte sein Bild schon in der Zeitung gesehen. Und in meinen Träumen. Es war dieser Rhodan.

Noch ein weiterer Mann, mit kurzen, roten Haaren, betrat hinter Rhodan den Raum.

»Stellen Sie keine Fragen. Folgen Sie uns einfach, wir bringen Sie schon hier heraus. Dann erklären wir Ihnen alles.«

Ich nickte und versuchte mich zu erheben. Meine Knie verweigerten den Dienst. Ich ging wieder zu Boden.

Natascha versuchte, mir aufzuhelfen, aber auch sie war entkräftet. Der Unbekannte, der den Raum zuerst betreten hatte, half mir hoch. Er und der Rothaarige nahmen mich in die Mitte, während sich die Frau um Natascha kümmerte. Gemeinsam verließen wir den Raum.

Rhodan hatte einen merkwürdigen Kasten von dem Rothaarigen, der sich als Bully vorstellte, entgegengenommen. Er ging voraus.

Wir erreichten die Eingangshalle ohne Zwischenfälle. Aber als wir die Tür erreichten, erkannten wir Soldaten draußen. Sie hatten die Gewehre erhoben. Wie sollten wir an ihnen vorbeikommen?

Rhodan drückte auf einen Knopf und verdrehte einen anderen. Dann richtete er die Antenne des Geräts auf die Soldaten. Einige der Leute schwebten plötzlich in der Luft! Sie stiegen immer höher. Ich folgte den Männern verblüfft mit den Augen. Da war ich nicht der einzige. Drei Soldaten waren dem Wunder entkommen. Sie blickten nicht weniger geistreich und begannen dann ziellos um sich zu schießen. Außer ihren eigenen Männern trafen sie allerdings niemanden.

Die Frau schoß mit einer merkwürdigen Waffe auf die Soldaten, die keine Kugeln zu verschießen schien, sondern Strahlen. Die Getroffenen gingen zu Boden, ohne weiter zu reagieren. Sie standen auch nicht mehr auf.

Als alle Soldaten, auch die fliegenden, betäubt waren, verließen wir den Ort des Geschehens. Zurück ließen wir eine Menge schlafender Soldaten und eine ganze Menge weiterer, die sich einfach nur voller Panik versteckt hatten. Außerdem hinterließen wir sehr wenige Tote.

Leichen pflasterten meinen Weg, dachte ich verbittert, Hoffentlich war damit endlich Schluß. Ich wollte nicht mehr. Rhodan sollte das künftig verhindern.

Ich blickte auf den Rücken des Mannes, der vor mir durch die Wüste schritt. Bewunderung und Stolz erfüllten mich. Bewunderung für diesen Mann, dessen Ausstrahlung vom ersten Moment an spürbar war. Kein Wunder, daß er es wagte, der Welt die Stirn zu bieten, auch wenn er einige Hilfsmittel aus einer außerirdischen Supertechnik hatte. Stolz, weil ich einen Teil meines Weges mit ihm gehen durfte.

Wir erreichten einige Felsen, hinter denen sie mich ablegten. Weiter konnte ich nicht gehen und so holte der Rothaarige einen Jeep, den die Männer in der Nähe geparkt hatten. Mit diesem Wagen fuhren wir alle zu einem zweiten. In dieser Zeit stellte sich Rhodan vor und machte mich auch mit seinen Begleitern bekannt.

Den Namen Reginald Bull kannte ich. Er war ebenfalls an Bord der STARDUST gewesen. John Marshall flößte mir Angst ein. Ein Telepath? Seit Willi Böck hatte ich Angst vor solchen Menschen. Ich versuchte nichts Falsches zu denken, ließ es aber nach einem Blick in seine Augen. Er würde das nicht tun. Ich lächelte ihn an, was er mit einem freundlichen Nicken quittierte.

Und Thora. Sie musterte ich besonders neugierig. Sie beachtete mich gar nicht, warf arrogant ihren Kopf in den Nacken, als ich sie grüßte. Sie war eine der Außerirdischen. Und das machte mir nun wirklich Angst, denn diese Wesen sahen aus wie jeder andere Mensch von der Erde. Jeder? Nein. Die meisten Frauen sahen nicht so gut aus. Ich warf einen verstohlenen Seitenblick auf Natascha. Sie konnte einem Vergleich mit Thora durchaus standhalten. Verlegen schlug ich die Augen nieder, als ich Reginald Bulls ironisches Grinsen sah.

Als wir den anderen Jeep erreicht hatten, stiegen Marshall und Thora aus. Sie enterten den anderen Wagen und folgten uns sofort. Erleichtert lehnte ich mich in dem Sitz zurück. Natascha schmiegte sich an mich. Sie hatte einen Einsatzanzug an, der in dem Jeep gewesen war. Warum Rhodans Männer einen Ersatzanzug mitgenommen hatten, konnte ich nicht ahnen. Auf jeden Fall sah Natascha in der Uniform sehr sexy aus.

Es dauerte nicht lange, da erreichten wir den See, an dem wir damals die Nacht verbracht hatten. Ich sog erschreckt die Luft ein. Ich erkannte eines der Bilder aus meinem Traum wieder. Die STARDUST lag dort unten, am Rande des Sees. Menschen liefen dort über den Sand, in dem Versuch, eine kleine Siedlung zu errichten. Das sollte also der Kern der neuen, großen Stadt werden, die ich in meinen Träumen gesehen hatte. Rhodan wandte sich um.

»Das ist unsere Siedlung. Wir haben sie TERRANIA genannt. Eine Stadt ist es zwar noch nicht, aber wer weiß, vielleicht in der Zukunft einmal …« Er ließ den Rest des Satzes offen, und auch ich schwieg. Schließlich konnte ich ihm kaum sagen, was ich wußte.

»Wollen Sie wirklich die Erde einen?«

Schweigend ließ Rhodan seine Blicke über das gleiten, was er bis jetzt erschaffen hatte. Er nickte langsam. »Ja. Ich werde jedenfalls alles dafür tun, dieses Ziel zu erreichen.« Er wandte sich in seinem Sitz um und ich konnte in seinen eisgrauen Augen den tiefen Ernst erkennen, mit dem er diese Worte sagte.

14. Irland

Wochen, Monate waren vergangen. Mittlerweile wohnte ich mit Natascha in einem der Häuser, die bereits fertiggestellt waren. Wir versuchten immer noch, die Erde zu einen. Rhodan schwirrte gerade irgendwo im All herum, vermutlich auf der Venus, um die dortige Positronik zu untersuchen. Die AF hatte mittlerweile aufgegeben, Schwierigkeiten zu machen. Andere Menschen erreichten Rhodans Stützpunkt in der Wüste um einiges leichter, als wir damals.

Ich selbst war zum Glück wieder hergestellt, dank Dr. Eric Manoli, einem der Astronauten, die Rhodan damals auf den Mond begleiteten. Nur eines störte mich noch: Ich wußte nicht, wo mein ehemaliger Freund, Manfred Hofer, war. In Budapest hatten wir uns aus den Augen verloren, aber eigentlich wollte ich immer noch sehr gerne wissen, was er damals sagen wollte. Nicht Willi Böck hatte meine Familie ermordet. Aber wer war es dann gewesen? Er selbst, wie er behauptet hatte?

Ich wußte es nicht.

Jedenfalls nicht, bis zu dem Tag, an dem John Marshall mir einen Brief überbrachte.

»Ich habe hier einen Brief für Sie. Er ist aus Irland.« Er drückte mir das Schreiben in die Hand. Als ich die Handschrift sah, zuckte ich zusammen. Marshall musterte mich besorgt.

»Hofer«, sagte ich.

Er schaltete sofort. Ich hatte meine Geschichte damals erzählt und die Männer um Rhodan wußten um meinen gefahrvollen Lebensweg.

Ich arbeitete inzwischen für einen Mann, den ich niemals bei der Dritten Macht erwartet hätte. Allan D. Mercant war einer der ganz Großen in der Agentenszene der Erde gewesen, bevor er zu Rhodan übergelaufen war. Nicht einmal er hatte eine Spur meines ehemaligen Freundes gefunden.

Und jetzt hatte ich einen Brief in der Hand.

Ich riß ihn auf. Es war seine Handschrift.

In dem Brief bedauerte er meine Flucht. Er behauptete, daß er mir nie etwas antun wollte. Wir seien damals in eine Falle des russischen Geheimdienstes getreten, von der selbst er nichts gewußt hatte. Ich glaubte ihm kein Wort.

Er bot mir ein neuerliches Treffen an. Der Termin lag drei Wochen in der Zukunft. Der 4. April 1972 sollte es sein. Mein Freund wollte mich an einem Ort treffen, der ihm sehr viel bedeutete. Dieser Ort lag in Irland.

Ich wußte, daß Hofer sehr gerne nach Irland ging. Er hielt sich dort oft auf, wenn er keinen Einsatz hatte, aber ich hatte nie den Eindruck, daß er das Land liebte. Er schimpfte ständig über das Wetter und wenn ich fragte, warum er trotzdem immer wieder hinging, war seine Antwort meist nur eisiges Schweigen.

Marshall ließ die Augen keinen Moment von mir. Ich wußte nicht, ob er in meinem Geist herumschnüffelte, aber als er sprach, wußte ich, daß er es nicht getan hatte.

»Was werden Sie tun? Ihnen ist sicher klar, daß es eine Falle ist.«

Ich stimmte ihm innerlich zu, aber doch wieder nicht. Ich kannte Hofer sehr lange und ein Vorgehen dieser Art paßte nicht zu ihm. Wenn er versucht hätte, alleine die ganze Dritte Macht zu vernichten, wäre es eine typische Aktion für ihn gewesen. Aber eine Falle aufbauen und nur darauf vertrauen, daß ich an unsere alte Freundschaft denken würde, dazu kannte er mich eigentlich zu gut.

Andererseits wollte er vielleicht gerade bezwecken, daß ich ihm eine Falle dieser Art nicht zutraute. War das die Falle?

Ich schüttelte den Kopf, dann blickte ich Marshall fest in die Augen.

»Ich werde hingehen. Ich will endlich wissen, was damals passiert ist. Wollen Sie mir helfen?«

Er musterte mich prüfend, dann nickte er. Wortlos wandte er sich um. Die Entscheidung war getroffen.

Auf dem Landweg hatten wir den Goshun-See verlassen. Ein Schiff brachte uns über das Wasser nach Japan, von wo der nächste Flug nach Europa ging. Von Tokio aus flogen wir um die halbe Welt. John Marshall, zwei Agenten von Allan D. Mercant, Natascha und ich selbst bildeten das Team, das nach Irland fliegen sollte. Eine Woche vor dem Termin landeten wir in Shannon.

Die Männer wußten Bescheid. Sie sollten den Ort des Geschehens unauffällig beobachten und mir den Rücken freihalten, falls andere Agenten uns beobachteten. Marshall war der wichtigste Mann, er sollte die Gedanken eventueller Agenten aufspüren.

Natascha sollte im Hintergrund bleiben und sich nicht sehen lassen.

Ich selbst wollte den Treffpunkt aufsuchen.

Der 4. April war ein kühler, regnerischer Tag in Irland. Nur sehr wenige Touristen hatten sich zu den Cliffs of Moher verirrt, obwohl das Wetter durchaus nicht untypisch für diese Region war.

An dem kleinen Häuschen, das ein Café und viele Möglichkeiten Touristisches zu erwerben enthielt, betrat ich einen Weg, der nach oben auf die Steilküste führte. Als ich dem Weg einige Zeit gefolgt war, wurde der Blick auf einen kleinen Turm frei, der auf dem höchsten Teil der Klippe stand. Dort sollte ich meinen Freund treffen.

Marshall und die Agenten folgten in einiger Entfernung.

Ich folgte dem Weg nach oben. Links von mir war eine Mauer, daneben die Kante der Klippe. Es ging über zweihundert Meter nach unten; die Aussicht war atemberaubend.

Ich hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Ich erklomm den Hügel, auf dem der Turm stand und umrundete das Bauwerk auf der Suche nach meinem alten Freund.

Beinahe hätte ich ihn nicht erkannt, aber dann erinnerte ich mich wieder an seine Wandlung: er war nicht mehr dick, sondern schlank und kräftig. Als ich noch einmal um mich blickte, erkannte ich ihn.

Er wandte mir den Rücken zu.

Ich ging zu ihm hin, erschien wie ein Geist neben ihm, aber trotzdem nicht unbemerkt.

Schweigend blickten wir über die kniehohe Mauer vor uns, auf die Felsen in der Tiefe, an denen sich das Meer gischtend brach. Lange sagte keiner ein Wort.

»Danke, daß du gekommen bist.« Er brach das Schweigen zögernd, mit leiser Stimme. Ein Unterton war in dieser Stimme, den ich noch nie bei ihm gehört hatte.

War es Angst?

»Was willst du?« Ich blickte ihn nicht an, wollte einfach nur seine Geschichte hören.

»In Budapest wurden wir sehr rüde unterbrochen.« Ich hörte seiner Stimme das schiefe Grinsen an, das sein Gesicht jetzt trug, aber ich hörte auch die Trauer. Trauer über was? Über sein Versagen oder das Ende unserer Freundschaft?

»Ich wollte dir eine Geschichte erzählen. Die Geschichte deines eigenen Lebens.«

Jetzt blickte ich doch in seine Augen. Noch nie hatten sie so ernst geblickt. Ich bildete mir ein, diesen Mann zu kennen. Aber noch niemals hatte er ausgesehen, als wolle er gleich in Tränen ausbrechen. Ich wandte mich wieder ab.

»Dann erzähle sie mir.« Ich wollte es wirklich, obwohl ich solche Angst wie noch nie hatte.

Er nickte wortlos, dann begann er zu reden:

»Vor sehr vielen Jahren hatte ich auch einmal eine Frau. Ich habe sie sehr geliebt, wir wollten Kinder und ein langes, glückliches Leben führen. Damals habe ich beim BND gerade angefangen und wollte nichts weiter als ein Schreibtischhengst werden.« Aus seiner Stimme sprach eine ferne Sehnsucht.

»Einige Zeit lebten wir sehr glücklich. Eines Tages berichtete sie mir von einem Arztbesuch, der ihr eine Schwangerschaft bescheinigte. Unser Glück hätte nicht größer sein können. Aber es scheint ein Naturgesetz zu sein, daß es immer dann am schlimmsten wird, wenn es am schönsten ist.«

Er brach ab. Seine Stimme zitterte und als ich verstohlen zu ihm hinüberblickte, sah ich eine Träne aus seinem Auge fließen. Der Regen peitschte ihm zwar ins Gesicht, aber ich erkannte es trotzdem. Ich schaute schnell wieder auf die stürmische See hinaus.

»Sie war gerade im dritten Monat, als sie eines Tages einkaufen ging. Einige Kollegen von mir verfolgten an diesem Tag einen feindlichen Agenten, den wir enttarnt hatten. Der Mann floh aus unserer Zentrale und versteckte sich in der Stadt. Er stahl ein Auto und nahm eine Geisel.

Die Geisel war meine Frau.«

Ich war erschüttert, ließ mir aber nichts anmerken.

»Und?« fragte ich, um das lastende Schweigen zu unterbrechen.

Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Er schluckte, dann setzte er zum Sprechen an. »Er hat sie erschossen. Die Einzelheiten will ich dir ersparen. Danach ist er untergetaucht, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber meine Frau und das Kind, das ich nie kennengelernt habe, waren tot.«

Er seufzte, aber diesmal war die Pause nur kurz, dann klang seine Stimme fester. »Nach einigen Jahren hatte ich die Spur dieses Mörders endlich wiedergefunden. Er war wieder in Deutschland und spionierte für die UdSSR, wie in alten Zeiten auch. Leider schaffte ich es nie, ihn zu erwischen. Bis ich auf eine Personalakte stieß. Ein junger, ehrgeiziger Polizeibeamter, verheiratet, ein Kind. Er hatte schon in jungen Jahren eine hohe Erfolgsquote aufzuweisen und versprach, einer der ganz großen Fahnder zu werden. Aus einigen wenigen Indizien rekonstruierte er in Windeseile alle Spuren, die es zu finden gab und überführte den Mörder. So einen Mann konnte ich brauchen.

Ich war damals an einem Punkt angekommen, wo es mir nichts mehr ausmachte einen Mord zu begehen. Ich überfuhr also kurzerhand eine Frau und ein Kind und holte mir dann den gebrochenen Polizisten, der alles tun würde, um die Mörder zu finden. Es war eine kritische Zeit damals. Ich wußte nicht, ob du jemals wieder in der Lage sein würdest, einen Menschen zu jagen. Aber als ich die Rachegelüste in dir weckte, merkte ich, daß du es schaffen würdest. Ich habe dich ausgebildet und dem Mörder meiner Frau auf die Fersen gesetzt. Du warst phantastisch. Du hast ihn schließlich, nach zehn langen Jahren, erwischt. Es war sein Tod. Meine Rache war erfüllt.«

Meine Fäuste ballten sich in den Taschen des Mantels, den ich trug. Ihn mit tonloser Stimme über den Mord an meiner Familie berichten zu hören, erforderte meine ganze Selbstbeherrschung. Aber dann entspannte ich mich. Er war ein gebrochener Mann. Obwohl er seine Rache erreicht hatte, hatte er doch alles verloren. Er hatte keine Freunde mehr, er wurde von feindlichen Agenten ausgebeutet. Er war ein Verlierer. Und er wußte das.

Ich wollte ihn nicht hassen. Ich blickte ihn aus eiskalten Augen an. »Warum erzählst du mir das?«

»Ich wollte, daß du es verstehst.« Noch während er es aussprach, schien er seine Worte zu bereuen. Er verstummte, und blickte auf seine Stiefelspitzen. Der Wind zerzauste sein Haar. Für einen Moment stellte ich mir vor, ihm den Schädel einzuschlagen. Nein. Keine Toten mehr.

»Du hast mein Leben zerstört, um deiner Rache willen. Du hattest nie einen wirklich guten Grund dafür. Erwartest du, daß ich dir vergebe?«

»Nein, das kann ich wohl kaum.«

»Also, warum hast du es mir erzählt?« schrie ich. Tränen brachen aus meinen Augen, ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Meine süße, kleine Frau …

Er schlug die Augen nieder. »Weil du es wissen mußt. Du mußt wissen, warum dein Leben sich gewandelt hat. Du mußt wissen, daß ich mich trotz allem als deinen Freund betrachte …« Er brach ab.

Ich drehte mich von ihm weg. »Wenn du Vergebung erhofft hast, bist du an den Falschen geraten.«

»Das habe ich nicht.« Seine Stimme war tonlos, aber ich konnte seine Verzweiflung spüren. »Ich habe mich immer für diese Tat gehaßt. Einmal mußte sie ja gesühnt werden und der Tag meines jüngsten Gerichts ist heute gekommen.«

Was redete er nur für einen Unsinn? Als ich ein Geräusch hörte, wandte ich mich um. Er war über die Mauer geklettert. Der Streifen Gras zwischen der Mauer und dem Abgrund war nur zwei Meter breit. Er ging an den Rand, wo er außerhalb meiner Reichweite war.

»Ich habe dich in Budapest nicht belogen und ich habe auch heute keine Agenten mitgebracht. Sicher hast du dich abgesichert.« Er lächelte und für einen Moment sah er aus, wie der alte Manfred Hofer.

Dann kehrte die Melancholie auf sein Gesicht zurück. »Ich bin einfach zu alt für diesen Job. Und ich möchte so auch nicht mehr leben. Glaubst du, daß es genügt, über diese Klippen zu springen?«

Ich verspürte plötzlich einen Kloß im Hals. Das also hatte er vor. Ich alarmierte Marshall, in der Hoffnung, daß er meine Gedanken las. Eigentlich wollte ich ihm nicht helfen. Aber ich würde ihn nicht so sterben lassen.

»Warum bist du immer wieder nach Irland gekommen? Du hast doch dieses Land immer gehaßt.« Eigentlich fragte ich das nur, um Zeit zu gewinnen. Aber ich merkte, noch während ich redete, daß es ein Fehler war. Sein Gesicht verzog sich schmerzlich.

»Ich bin schon oft hier gestanden, allerdings hinter der Mauer. Ich wollte immer wieder springen, habe es aber nie getan. Das erste Mal war ich hier, genau ein Jahr nach dem Tod meiner Frau. Ich wollte den Jahrestag mit einem Urlaub vergessen. Seither habe ich den Jahrestag immer hier auf den Klippen verbracht, natürlich nur, wenn es ging. Seither will ich sterben. Bitte, halte mich nicht auf.«

Er blickte mich an, als erwarte er genau das Gegenteil dessen, was er gerade sagte. Wo blieb nur Marshall? Ich stieg über die Mauer. Jetzt war er nur noch einen Meter von mir entfernt. Zwei Touristen, die sich doch hier herauf verirrt hatten, musterten uns besorgt. Da erschien Marshall. Er verjagte die Touristen.

Ich wandte mich wieder Hofer zu, der nun nur noch Zentimeter vor dem Abgrund stand. Ich wollte hinzuspringen, um ihn festzuhalten. Aber ich konnte es nicht. Nicht, als ich seine Augen sah. Laß mich sterben, schienen sie zu flüstern.

Als Marshall über die Mauer sprang, stieß sich der Freund ab. Ich blickte in seine Augen, erkannte seinen Entschluß, rührte aber keine Hand mehr, um ihn zu halten. Er hätte mich nur mit in die Tiefe gerissen. Sein Körper verschwand, nur ein Schrei lag noch für einen Augenblick in der Luft. Ich rührte mich nicht.

Eine Hand legte sich nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam auf meine Schultern. Ich merkte erst jetzt, wie mich fror. Hatte ich ihn wirklich gehaßt? Eigentlich nicht. Den Mörder meiner Familie hatte ich in der Sahara getötet. Etwas anderes war für mich nie wichtig gewesen. Hofer würde als Freund in meiner Erinnerung bleiben.

Ich kletterte über die Mauer, als Marshall mich leise aufforderte, mit ihm zu kommen. Natascha rannte mir entgegen. Sie warf sich in meine Arme. Ich hielt sie fest, während ich in Marshalls Augen blickte. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, eine Hand greife in meine Gedanken. Dann nickte der Mutant Rhodans. Er hatte verstanden.

Der Regen peitschte in mein Gesicht, die See war von einem Sturm aufgewühlt. Zweihundert Meter unter mir wurde ein menschlicher Körper gegen die Klippen geschmettert. Dann nahm ihn das Meer mit nach draußen. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Epilog. Erinnerungen

Der einsame Mann in dem Bungalow am Goshun-See schaltete das Mikrophon ab. Sein Blick wanderte über den schweigenden See, der in der Nacht fast schwarz wirkte. Er sah keinen See, er sah ein Meer. Und für einen Moment schien es ihm, als höre er den Schrei des Freundes noch einmal, sehe noch einmal seine Augen, als er den Entschluß faßte, zu springen, sehe noch einmal den Körper in der Tiefe verschwinden.

Er schüttelte den Kopf, dann dachte er an sein eigenes nahes Ende. Der Tod würde ihn erwarten. Aber vorher würde er noch einige Geschichten zu erzählen haben. Zum ersten Mal seit Stunden huschte wieder ein Lächeln über die Lippen des Mannes. Er dachte nicht an den Tod, sondern ein weiteres, neues Leben.

Peter Wolf ging über die weichen Teppiche seines Hauses. Er griff nach dem Whisky, der auf dem Tisch stand. Seit einiger Zeit schmeckte die goldbraune Flüssigkeit zu gut. Er stellte die Flasche in einen Schrank. Dann verließ er das Zimmer, suchte sein Schlafzimmer auf. Wortlos kleidete er sich aus, legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange und er war fest eingeschlafen.

Morgen würde er seine Geschichte weitererzählen.

ENDE

PROC STORIES - Fan-Stories vom PROC - ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUBs. Kurzgeschichte »Der Weg nach Osten« von Ralf König. Erschienen am: 01.09.2002. Titelbild: Alexander Nofftz. Lektorat, Nachbearbeitung: Christian Lenz. Umsetzung in Endformate: Alexander Nofftz. Generiert mit Xtory (SAXON, LaTeX). Homepage: http://stories.proc.org/. eMail: stories@proc.org. Copyright © 2000-2002. Alle Rechte beim Autor!