Ausgabe 05/02 Terracom
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Xenogenesis

a Perry Rhodan Story by Ronald W. Klemp

Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit einer bekannten Computeranimation sind kein Zufall, sondern volle Absicht! -Die Story zum Filmchen-

1

Sie hatten beschlossen, die Planeten dieses Raumsektors nicht näher zu untersuchen, sondern sich mit oberflächlichen Ortungen zufriedenzugeben. Alle wiesen ähnliche Charakteristiken auf; die Scans ergaben, daß sich die vorhandenen Biostrukturen stark glichen. Doc Dokklin protestierte; er vermutete, daß eine intelligente Rasse den Sektor besiedelt hatte. Terraforming (respektive Xenoforming) mußte für die Ähnlichkeiten der Planeten verantwortlich sein; parallele Entwicklung allein hätte niemals so viele Welten betroffen.

Aber es gab keine Anzeichen intelligenter Bewohner, weder Schiffe noch energetische Emissionen. Mehrere Stunden lauschten sie auf allen Hyper- und Normalfunkfrequenzen, aber vergeblich. Wenn es interplanetare Kommunikation gab, so fand sie nicht mit bekannten Mitteln statt. Und so interessant die planetare Ökologie auch sein mochte: sie suchten hier nicht nach Siedlungswelten. Ihr Auftrag an der Großen Leere lautete, Zivilisationen zu finden, Daten zu sammeln, Auskünfte einzuholen. Kosmokartographie und wissenschaftliche Untersuchungen waren sekundäre Ziele, die sie zudem im Übermaß erreicht hatten. Komplexe Daten über mehr als sechshundert Planeten lagerten in den Speichern der HANDURAK, und die Feldteleskope des Schiffes hatten Milliarden Kubiklichtjahre fremden Raumes gemessen.

Wirklich wichtige Erkenntnisse hatten sie hingegen nicht gewonnen. Die Ereignisse an der Großen Leere lagen Jahrmillionen in der Vergangenheit, und die meisten Zivilisationen hatten sich erst viel später entwickelt, waren erst Jahrtausende alt. Sie konnten nichts Bedeutsames wissen. Ein paarmal war die Expedition auf Spuren einer Organisation gestoßen, die sich Damurial nannte und der Nachfolger einer gewissen Tanxtuunra sein sollte, einer »Allianz der tausend Galaxien«. Sie schienen jedoch schon die Grenzen des Einflußbereiches der Damurial zu durchfliegen, denn die Organisation war unter den ansässigen Zivilisationen unbedeutend und relativ unbekannt. Das wenige, was sie erfuhren, deutete darauf hin, daß die Damurial eine in Jahrhunderttausenden erstarrte, traditionsgebundene Gruppe war, die ihren Daseinszweck schon lange überlebt hatte. Rhodan wußte all das wahrscheinlich schon; die Sampler versprachen mehr Erkenntnisse über das »größte kosmische Rätsel«, wie die Ennox es nannten.

Sie hatten einen Fernscan des Planeten durchgeführt und waren bereit, weiterzufliegen, um den weiten Bogen zurück zur BASIS zu vollenden, als eine Riesenfaust gegen das Schiff schmetterte.

Der Schlag traf die HANDURAK unvorbereitet. Etwas prallte gegen die Hülle, detonierte jedoch nicht. Die Zentrale wurde erschüttert, als die künstliche Schwerkraft versuchte, die Schwingung auszugleichen. Die Schiffszelle dröhnte unter dem Aufprall. Für mehrere Sekunden verloren die Intelligenzen an Bord den Boden unter den Füßen. Instrumente gingen zu Bruch, und überall im Schiff fielen Gegenstände um. Ein besorgniserregendes Knirschen löste den Alarm in den Außensektionen aus. Schotten fielen. Rotes Licht überflutete die Korridore, und die Verriegelungen der Fächer mit Not-SERUNs öffneten sich automatisch.

Dann gewann die Strukturstabilisierung die Oberhand. Energiefelder konterten Schwingung und Zerrung der Hülle. Roboter schwärmten durch die Gänge, um Risse und überdehnte Sektionen zu begutachten. Es dauerte jedoch fast eine halbe Stunde, ehe das Schiff den Alarmzustand wieder aufhob.

Ein materieller Körper hatte sie getroffen, behauptete die Ortung, dreißig Tonnen schwer und etwa sechzig Kilometer pro Sekunde schnell. Er kam aus Richtung des Planeten.

Die Schutzschirme hatten sich nicht eingeschaltet. Das allein war seltsam, denn jede größere Gesteins- oder Metallmasse hätte das Sicherheitssystem alarmieren müssen. Hendria, die gardianische Kommandantin, ließ sich vom Syntron alle Daten auf ein virtuelles Terminal projizieren und musterte ungläubig die Dokumentation der Kollision.

»Wir hätten alle tot sein können«, fuhr Hendria die Syntronik an. »Warum wurden die Schirme nicht aktiviert?«

»Die Masse wurde als organisch identifiziert. Die dauernde Ortung, die das Schiff vor kleineren Himmelskörpern schützt, spricht nur auf Gestein oder Metall an und hat daher die Hauptschilde nicht aktiviert. Die Scanner, die die nähere Umgebung nach sonstigen Objekten absuchen, haben auf diesen Flugkörper zu spät reagiert. Wahrscheinlich besaß er einen Ortungsschutz.« Der Syntron klang ruhig und ausgeglichen wie immer. »Im Normalfall hätten die Staubschilde das Objekt noch abgefangen, aber zum Zweck der Beobachtung der Planeten waren sie ebenfalls heruntergefahren. Leider interferieren die Staubschilde mit den Feldteleskopen.«

»Organisch? Ein Lebewesen?«

»Unbekannt. Es konnten im Moment der Kollision keine näheren Untersuchungen gemacht werden. Reste des Objekts an der Außenhülle weisen eine proteinähnliche Struktur auf.«

Die Gardianerin warf einen Seitenblick auf die Monitore, die den Zustand des Schiffs anzeigten. Alle Schirme waren hochgefahren, selbst der Paratronschirm, den sie im Laufe der Reise nur selten aktiviert hatten. Wenn es ein Angriff gewesen sein sollte, waren sie vorbereitet. Hendria ließ zusätzlich die Waffensysteme checken.

»Haben wir intelligentes Leben irgendwo entdecken können?« fragte sie den Blue Lyrüdün Myrkin, den Chef der Ortung. »Irgend jemand da draußen, der einen Haß auf ungebetene Gäste hat?«

»Nichts«, gab Lyrüdün zurück. »Bis zum Moment des Aufpralls hatten die Feldteleskope den ganzen Planeten schon kartographiert. Keine Strukturen erkennbar, die auf Intelligenzen hinweisen. Keine Städte, Straßen, Industrie, Häfen, Flughäfen, Militäreinrichtungen. Wenn da unten jemand ist, dann hat er sich gut versteckt. Vielleicht gibt es unterirdische Komplexe, Bunker oder so. Aber ohne Energie...«

»Was hat uns denn getroffen? Es kam doch aus Richtung des Planeten!«

»Ungefähr«, korrigierte der Syntron. »Es ist möglich, daß es die Welt in geringem Abstand passiert hat. Die Ortung hatte das Objekt nicht unter Beobachtung, bis es tausend Meter vom Schiff entfernt war. Der Kurs kann aus der Sechzigstelsekunde bis zur Kollision nicht zuverlässig abgeleitet werden. Außerdem ist es möglich, daß es einen Antrieb besaß und somit die Richtung wechseln konnte.«

»Wenn es einen Antrieb benutzt hätte«, widersprach der Blue, »hätten wir es rechtzeitig orten können.«

»Sofern der Antrieb auf einer bekannten Basis beruht«, gab der Syntron zu bedenken.

»Diese Diskussion führt zu nichts«, stellte die Kommandantin fest. »Syntron, rufe ein Team zusammen und laß es mit einer Space-Jet nach dem Objekt suchen. Sechzig Kilometer pro Sekunde sind nicht viel. Es kann noch nicht weit sein. Lyrüdün, haben wir Orter, die diesen geheimnisvollen Ortungsschutz durchdringen können?«

Der Blue lehnte sich zurück. »Selbstverständlich. Es war nur ein unglücklicher Zufall, daß die einzigen aktiven Scanner das Objekt nicht erfassen konnten. Es muß energetisch tot gewesen sein, sonst hätten wir es angemessen. Das bedeutet, jeder Ortungsschutz ist rein passiv. Ich vermute, daß die Hüllenproteine ein ablenkendes Kristallgitter bilden. Die Labors sind dabei, die Reste zu untersuchen.«

Hendrias Schwanz zuckte nervös. Sie wäre gern auf und ab gegangen, aber die drei Ebenen der Kommandozentrale boten nicht genug Platz. Ihre Gedanken kreisten noch immer um die Möglichkeit eines Angriffs. Das fremde Objekt war primitiv; kein hochtechnisierter Gegner hätte versucht, sie durch Rammen zu zerstören. Andererseits waren sie mehr als zwei Lichtsekunden vom Planeten entfernt. Wenn man sie von dort aus unter Beschuß genommen hatte, besaß man Waffen mit hoher Reichweite. Orbitalkanonen? Das ergab keinen Sinn. Man schoß nicht mit Kanonenkugeln auf Schutzschirme. Überhaupt brauchte das Objekt vom Planeten bis hier -- sie überschlug Geschwindigkeit und Entfernung -- etwa zehntausend Sekunden, also zwei Komma acht Stunden. Die HANDURAK hatte diese Position aber erst seit eineinhalb Stunden inne. Als der Flugkörper den Planeten verließ, waren sie also noch nicht einmal angekommen.

Damit schied ein Angriff aus. Das Objekt war sicher nicht von einem getarnten Schiff gekommen, und es hatte auch seinen Kurs nicht geändert. In beiden Fällen hätten sie irgend etwas geortet. Nein, der Zusammenprall war wirklich nur ein Zufall (äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich), eines jener Ereignisse, über die man in den Raumfahrermagazinen liest und von denen man glaubt, sie könnten einem selbst nicht zustoßen, bis es dann doch soweit ist. Hendria überflog die Schadensberichte. Es gab keine ernsthaft Verletzten, nur ein paar Prellungen und Beulen. Die Hülle wurde derzeit repariert; die strukturelle Integrität des Schiffes war nicht gefährdet. Sie waren glimpflich davongekommen.

Blieb die Frage, wieso das Objekt organische Struktur besaß und wer es abgeschossen hatte. Niemand ließ mit hohem Energieaufwand Dinge aus dem Gravitationsschacht eines Planeten in den Raum befördern, wenn er damit nichts bezwecken wollte. Eine Sonde? Eine Botschaft? Ein Hilferuf? Das Außenteam, das das Objekt einsammeln sollte -- sofern es noch auffindbar war --, brachte die Erkenntnis hoffentlich mit.

Oder war der Flugkörper doch nicht vom Planeten gekommen? Der Syntron ließ beide Möglichkeiten offen. Frustriert kämmte Hendria ihr Fell mit den Fingern durch, bis Lyrüdüns Ausruf sie aus ihren Gedanken riß.

»Ortung! Wir haben einen Energieausbruch auf dem Planeten!«

Hendria starrte auf die Bilder, die der Blue an ihr Terminal übertrug. Auf der nördlichen Hemisphäre, in der gemäßigten Klimazone auf der Nachtseite des Planeten, war eine Rakete gestartet worden. Die Scans wiesen Ähnlichkeiten mit den terranischen chemischen Raketen des 20. Jahrhunderts auf, aus der Zeit, ehe der Atomantrieb der STARDUST entwickelt worden war.

»Also gibt es doch intelligente Bewohner«, stellte die Kommandantin fest. »Aber was für eine Technologie verwenden sie, wenn wir davon überhaupt nichts anmessen können? Und wozu dienen diese Abschüsse?« Sie dachte kurz nach. »Ich werde mir das selbst ansehen. Sag Doc Dokklin Bescheid; er bekommt seine Chance, sich den Planeten in Person anzusehen.«

2

Doc Dokklin war ein kleiner, dicklicher Mann mit allzuwenig Haaren. Er arbeitete schon sein halbes Leben lang als Xenobiologe in derselben Position, obgleich er kompetent genug war, um ein größeres Labor, vielleicht sogar eine ganze Forschungswelt zu leiten. Sein Ehrgeiz war jedoch nicht ausgeprägt genug, um eine weiterführende Karriere anzustreben. Hendria kannte ihn recht gut, immerhin war er ihr seit mehr als drei Jahren unterstellt, seit die Coma-Expedition begonnen hatte. Dokklin vergrub sich gern in seiner Arbeit; er war ein Mensch mit wenig Privatleben, aber in Gesellschaft humorvoll und freundlich. Vielleicht war seine Menschenkenntnis nicht besonders groß, aber sein Wissen um andere Völker dafür um so umfassender. Er hatte Details der gardianischen Kultur im Kopf, die Hendria selbst nicht ohne weiteres gewußt hätte. Und er war ein begeisterter Forscher, beseelt von der Neugierde, getrieben vom Hunger auf fremde Welten, neue Erkenntnisse, faszinierende Einsichten.

Außer Dokklin nahm Hendria nur einen WISA-Roboter mit, ein Modell der WISsenschaftlichen Analyse. Er paßte gerade in die Schleuse einer Space-Jet, wenn er seine Spinnenbeine zusammenfaltete.

»Ich freue mich, daß du dich anders entschieden hast«, sagte Dokklin. Er wartete bereits in der Zentrale der Jet, gekleidet in einen makellosen SERUN. Hendria selbst fühlte sich in den Anzügen unbehaglich: der feste Stoff scheuerte an ihrem Körperfell, ihr Schwanz schien nie richtig im Futteral zu liegen, und der Helm wollte nicht zu ihrem fuchsartigen Kopf passen. Die Ohren stießen ständig gegen die Innenpolsterung, und wenn ihr die Haare über die Augen fielen, konnte sie sie nicht mit der Hand zur Seite schieben. Sie war ein Geschöpf der freien Natur, nicht der technologischen Krücke. Doc Dokklin hingegen hätte mit einem SERUN geboren worden sein können. Oder mit einem Laborkittel.

»Nichts für ungut, Doc, aber ich tue das nicht, weil du schon den zehnten Antrag an die Zentrale gerichtet hast. Wenn Lyrüdün nicht diesen neuen Raketenstart angemessen hätte, wären wir schon längst weg.« Die Jet wurde von der HANDURAK ausgestoßen und manövrierte sich an den Planeten heran. Binnen weniger Minuten waren sie in einen Orbit eingeschwenkt. »Ich würde das Ganze auf sich beruhen lassen. Wir können nicht jedem kleinen Rätsel auf den Grund gehen. Dafür sind wir zu wenige und zu schlecht ausgerüstet. Und meiner Meinung nach ist die Große Leere auch nicht das ideale Forschungsobjekt. Wir haben ja noch nicht einmal unsere Nachbargalaxien komplett vermessen und erforscht.«

»Gibt es etwas Faszinierenderes als die Fremde?« Dokklin lümmelte sich bequem in seinem Formenergiesessel. »Hey, ich kann nirgendwo eine Spur von Intelligenzen entdecken.«

Hendria vergewisserte sich, daß die Nahbereichs-Orter korrekt eingestellt waren. Natürlich waren sie es. Es gab nur kein intelligentes Leben, das sie hätten anmessen können. Unter der Jet zog sich ein endloser, vielfältiger Pflanzenteppich hin, ein Gewirr aus hundert Meter hohen, baumartigen Strukturen und kleineren, vielfältig geformten organischen Komplexen. Keine technischen Einrichtungen. Keine intelligenten Wesen. Keine Tiere. Es gab frei bewegliche Objekte; manche schwebten an rotierenden Schirmchen umher, andere liefen auf zahllosen Beinchen. Aber die Zellstruktur verriet sie als Pflanzen.

»Das kann nicht sein«, stieß Hendria hervor. »In dieser Gegend wurde eine Rakete gestartet! Man kann doch nicht inmitten einer Wildnis einen Raumhafen anlegen!«

»Man?« sinnierte Dokklin. »Ich kann nicht mal etwas erkennen, das ich \,\man\`\ nennen würde. Hier gibt\'\s nicht einmal Insekten. Diese fliegenden Pflanzen scheinen andere zu bestäuben. Interessant.« Hendria stoppte die Jet mehrere Kilometer südlich der Stelle, wo der Energieausbruch angemessen worden war, und gestattete Dokklin einen eingehenden Scan.

Die Pflanzen waren tausendfältig gefärbt; rot und blau die Bäume, grün und gelb die kleinen Sträucher; braun und violett die Netze und Röhren, die sich zwischen ihnen spannten. Überall gab es Farbtupfer, Muster, Signale für die optischen Systeme, die hier allein die Pflanzen entwickelt zu haben schienen. Die Scanner waren mit der Analyse der biochemischen Prozesse überfordert. Piepsend protestierten sie gegen die Überlastung. Dokklin engte den Scanbereich ein, richtete die Orter mal auf dieses, mal auf jenes Objekt und begutachtete staunend, was der Syntron daraus errechnete.

»Eine kooperierende Ökologie«, stellte er schließlich nach mehreren Stunden des Überflugs fest. »Die Pflanzen kämpfen nicht miteinander um den günstigsten Platz oder die reichhaltigsten Nährstoffe. Jede besetzt eine komplett andere Nische. Und sie helfen einander. Es ist fast wie bei einem mehrzelligen Organismus, wo sich die Zellen quasi auf ganz verschiedene Rollen eingestellt haben und zum Wohl des Ganzen eine total spezialisierte Funktion ausführen. Nur daß hier ganze Organismen sich zusammengeschlossen haben. Einige der Pflanzen bringen nur Bestäuber hervor und werden von ihrer Umgebung ernährt. Andere scheinen chemische Fabriken geworden zu sein. Diese Lianen sind hohl, sie transportieren Flüssigkeiten und Lösungen von einer Pflanze zur anderen. Und die Komplexität der Hormone... Du liebe Zeit, damit so etwas sich entwickelt, müssen Jahrmilliarden ins Land gehen.«

Ein Verdacht kam Hendria. »Doc, ist das alles... ist es intelligent?«

»Definitiv nein. Es besitzt eine gewisse Struktur, aber kein Zentrum. Es ist einfach kein Gehirn vorhanden. Alle Nerven, wenn wir sie mal so nennen wollen, verbinden nur lokale Zentren. Mit einer Ausnahme... Die meisten chemischen Stoffe werden nach Norden transportiert.«

»In Richtung des Raketenabschusses. Vielleicht sollten wir uns die Stelle einmal ansehen.« Hendria setzte die Jet wieder in Bewegung. »Wenn dieses... Wesen ein Gehirn hat, dann dort.«

In hundertfünfzig Metern Höhe, knapp über den Wipfeln der »Bäume«, schwebte die Jet weiter. Unter ihnen drehten sich antennenartige Schüsseln, peitschten Ranken, schossen kompliziert anmutende pflanzliche Flugkörper in die Höhe. Man konnte sich leicht vorstellen, daß Tiere dort keinen Platz hatten.

Dann sahen sie es. Es ragte fünfhundert Meter in die Höhe und wurde von allen Seiten von krummgewachsenen Stämmen gestützt. Das wabenartige Gewebe, das das ganze Gebilde umflocht, wirkte äußerst stabil. Die Zuleitungsranken wuchsen hier bis zu einer Dicke von mehreren Metern an, und die pflanzlichen Chemolabore umwucherten den gesamten Komplex.

»Ein Gehirn ist das nicht«, stellte Dokklin ironisch fest.

»Ein Startgerüst«, murmelte Hendria. »Ein gewachsenes, organisches, lebendes Startgerüst.«

Der Xenobiologe wies ins Innere des Gerüstes. »Dort unten scheinen die Geschosse zu wachsen.« Hendria hielt die Jet von der Rampe fern, obgleich sie liebend gern den Kern des Gewächses begutachtet hätte. Aber wenn hier eine weitere »Rakete« abgeschossen wurde, wollte sie das kleine Schiff nicht in Schußlinie haben. Tief unten im Dickicht breitete sich ein Knäuel aus Leitungen, Knoten, Abzweigungen, Stämmen, Gerüsten, Behältern und winzigen Fabriken aus. Und ganz im Zentrum blähte sich eine mächtige Ranke mit einer einzigen Knospe auf. Der Scanner lieferte mit Hilfe von Mikrosonden ein scharfes Bild davon.

»Die Raketen wachsen auf diese Weise«, behauptete Dokklin. »Ich glaube, es wird noch ein paar Monate dauern, bis diese hier reif ist. Aber diese Pflanze hat ja auch gerade erst die letzte gezündet.«

»Space-Jet? Hier ist Lyrüdün«, meldete sich der Blue von der HANDURAK. »Ich habe ein neues Energieecho, noch sehr schwach. Dreihundert Kilometer östlich von euch.«

Hendria ließ die Space-Jet beschleunigen. Das kleine Raumfahrzeug schoß in einem parabolischen Bogen aus der Atmosphäre hinaus, beschleunigte auf vielfache Schallgeschwindigkeit und sank nur Minuten später wieder herab. An der von Lyrüdün bezeichneten Stelle befand sich ein weiteres Startgerüst. Die planetare Nacht wich hier langsam der Dämmerung, und die beobachteten Aktivitäten der Pflanzen nahmen noch um ein Vielfaches zu.

Dieses Startgerüst besaß etwas, was sie beim anderen nicht gesehen hatten: riesige, metallisch schimmernde Blätter, die das Innere der Rampe auskleideten. Qualm stieg aus dem Inneren des Pflanzenkomplexes hervor.

»Abschirmungen«, erklärte Dokklin. »Sie enthalten viel Eisen, Gold, Kupfer... Anscheinend schützt sich die Pflanze damit vor dem Verbrennen. Die Hitze wird abgeleitet. Schau dir die Proteinstruktur an! Kristallin aneinandergelagerte Molekülketten, diamanthart und trotzdem noch beweglich.«

Hendria hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie war derzeit nicht an den chemischen Phänomenen interessiert, sondern eher an den optischen. Die Scanner und Orter zeichneten ohnehin alles syntronisch auf.

Ein Feuerstrahl schoß aus dem Startgerüst, und auf ihm ritt ein seltsames Objekt. Qualm verhüllte die gewaltige Pflanzengemeinschaft darunter, aber die »Rakete« eilte ihm davon. Sie bestand aus vier ellipsoiden Grundkörpern mit allerlei unregelmäßigen Auswüchsen. Leitflossen wuchsen aus allen Seiten wie die Stacheln eines Kaktus. Aus dem hintersten Ellipsoid schoß eine Flammenzunge.

»Wenn ich es nicht sehen würde, würde ich es nicht glauben«, murmelte Hendria und wies die Space-Jet an, der Pflanzenrakete in einigem Abstand zu folgen. Das Raumschiff hatte keine Mühe, das primitive chemische Geschoß einzuholen und zu begleiten. Nach wenigen Sekunden trennte sich das hinterste Ellipsoid ab und fiel dem Planeten entgegen. Das dritte Segment zündete sofort seinen Antrieb, und die Pflanze beschleunigte weiter. Sie erreichte Fluchtgeschwindigkeit, nachdem sie ein Viertel des Planeten umrundet hatte. In einer flachen Kurve verließ sie den Orbit und eilte den Sternen entgegen.

»Ich kann nicht glauben, daß irgendeine Evolution so etwas hervorbringt«, behauptete die Kommandantin. »Es ist so... zielgerichtet. Und es bringt keinen Vorteil für die Pflanze selbst, wenn sie ihre Nachkommenschaft ins All schießt. Ich meine, wo landen diese Dinger denn?«

Dokklin trommelte mit den Fingern auf der Lehne herum. »Ich könnte es mir schon vorstellen«, sagte er. »Stell dir eine kleine Pflanze vor, die ihre Saat davonschleudert, damit sie weit weg landet. Stell dir vor, die Saat hätte eine Art chemischen Nachbrenner. So etwas ist nicht ungewöhnlich; es gibt auf Terra etliche Insekten, die wandelnden Laboratorien gleichen. Mit der Zeit wird die Pflanze größer, und sie geht eine Symbiose mit anderen Pflanzen ein. Ihre Saat besiedelt nicht nur den heimatlichen Kontinent, sondern nahe Inseln. Und die Exemplare werden immer größer, bis die Saat wie eine Interkontinentalrakete über Meere hinweggeschossen wird. Der ganze Planet wird überwuchert, und die ökologische Gemeinschaft wird immer größer. Irgendwann gibt es keinen freien Fleck mehr auf dieser Welt, und die Raketenpflanzen sind inzwischen zu Giganten herangewachsen. Die Saat kann jetzt die Planetenschwerkraft überwinden und zu anderen Welten aufbrechen.«

»Aber was macht sie da? Sie geht ein!«

»Sicher? Stell dir vor, die anderen Pflanzen in der Symbiose hängen ihre eigene Saat an die Rakete an. Zuerst wie Parasiten, aber je enger die Beziehung wird, je mehr sich die Pflanzen spezialisieren, um so notwendiger wird es für die Raketenpflanze, auch die Saat der anderen Pflanzen mit an den neuen Siedlungsort zu nehmen. Ohne die Symbionten könnte sie nicht mehr leben. Ich wette, diese Rakete dort trägt die Gene der gesamten hiesigen Ökologie in sich, Samen von jeder einzelnen Pflanze. Vielleicht haben sie sogar einen einzigen gemeinsamen Chromosomensatz, falls es so etwas hier gibt. Und ich bin sicher, daß die Ökologie in mehreren Stufen wächst. Zuerst Pflanzen, die den Boden bereiten, dann solche, die das Gelände ebnen, dann solche, die die Gerüste stellen, schließlich die eigentliche Gemeinschaft. Wer weiß, vielleicht produziert die erste Generation sogar aus dem Gestein den Sauerstoff und Stickstoff, sozusagen als natürliche Atmosphäreprozessoren.«

»Und was soll der Vorteil für die Pflanze sein? Sie weiß nichts von den Ablegern.«

»Die Pflanze hat keinen Vorteil. Aber die Ableger. Sie kommen auf neuen Boden, können sich ungehindert ausbreiten. Und es sind die Ableger, die die Gene für die Raumfahrt weiterverbreiten. Mag sein, daß die Mutterpflanze auf der Heimatwelt eingeht, aber irgendwann schießen die Ableger ihre Saat zurück, und die neuen Pflanzen überwuchern die ursprünglichen.« Dokklin faltete die Hände. »Wir wissen ja nicht einmal, ob das hier die Mutterwelt ist. Wir haben ja schon gesehen, daß die Biostrukturen aller Welten in diesem Sektor ähnlich sind. Es sind die Raketenpflanzen, die sie besiedelt haben, nicht irgendeine Intelligenz. Das Leben findet einen Weg...«

Hendria versuchte sich solch eine Ökologie vorzustellen. Alle paar Stunden wurde, soweit sie das beobachtet hatten, eine Saatpflanze gestartet. Wie viele mochten es in einem Jahr sein, in einem Jahrhundert, in einer Jahrmillion? Tausende würden in der Sonne verglühen oder auf den sonnennahen und sonnenfernen Planeten zerschellen, wo ein Überleben selbst für die genügsamen Vorbereiter unmöglich war. Aber einigen mußte es gelingen, die Schwerkraft der Himmelskörper auszunutzen, um selbst zu beschleunigen und das System zu verlassen. Mit der relativ geringen Geschwindigkeit irrten sie dann Jahrtausende durchs All, bis sie vom nächsten Stern eingefangen wurden. Und wieder verglühten Tausende in ihm, und nur wenigen gelang es, auf einem Planeten niederzugehen, wo der Ökologie eine Möglichkeit des Ansiedelns gegeben wurde. Doch egal: eine Saat genügte, um am Ende nach Jahrhunderttausenden die ganze neue Welt in Besitz zu nehmen. Was für ein Beispiel blinden Eifers! Unintelligentes Leben, das sich anschickte, seinen ganzen Raumsektor zu überwuchern.

Die Pflanzenrakete hatte mittlerweile ihre letzte Stufe abgestoßen. Das einzige verbleibende Ellipsoid öffnete sich und spie eine pfirsichkernartige Kapsel aus. Hendria maß die Endgeschwindigkeit des Objekts. Ungefähr sechzig Sekundenkilometer, Masse einunddreißig Tonnen. Genau solch eine Kapsel hatte die HANDURAK getroffen. Da der Abschuß ungezielt erfolgte, war eine Kollision extrem unwahrscheinlich, aber in diesem einen Fall hatte der Zufall ihnen einen Streich gespielt.

Hendria ließ die Kapsel dahinschweben und steuerte die Space-Jet zurück zum Mutterschiff. Dokklin stürzte sich sofort wieder in die Arbeit; die Meßdaten hatte er bereits an sein Labor übertragen. Hendria hingegen nahm sich erst die Zeit, sich Stück für Stück aus dem elenden SERUN zu schälen. Sie schüttelte sich. Der enge Anzug hatte ihr ganzes Fell in krause Locken gedreht.

»Kommandantin?« Zwei Terraner von der Sicherheitsabteilung kamen in den Hangar. »Wir konnten das Kollisionsobjekt bergen. Es ist eine Art... Kern.«

Hendria nickte. »Das weiß ich. Wir haben inzwischen herausgefunden, um was es sich handelt.«

»Was sollen wir damit tun? Es ist stark beschädigt. Wir haben es vor der Schleuse befestigt; es paßt nicht mehr in den Hangar, wenn die Jet drin ist.«

Die Gardianerin seufzte. »Zeigt es Doc Dokklin. Er soll sich die interessanten Stücke herausschneiden. Den Rest könnt ihr auf Sonnenkurs bringen.« Nicht daß es den Sektor sicherer machen würde, wenn sie eine Saat vernichteten; immerhin schwirrten noch Zehntausende solcher Kerne hier herum. Aber die beschädigte Pflanze taugte sowieso nicht mehr zur Vermehrung.

Die Terraner zogen gehorsam ab. Hendria schüttelte den Kopf und strich sich die Haare glatt. Sie hoffte, daß Doc Dokklin nicht auf die Idee kam, die Ökologie in seinem Labor großzuziehen. Rhodan wäre nicht begeistert von einem zugewucherten Explorer.

In einen terranischen Vorgarten paßte die Raketenpflanze jedenfalls nicht.

© 1994 by Ronald W. Klemp (Cairyn Playful Otter)

 

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