Alexander Nofftz (AlexNofftz@email.com)

Science Fiction Am Rand der Welt

Teil 3 von 3

Copyright © 1999
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    Melka schloss die Augen, hoffend, dass sie nur einer Sinnestäuschung erlegen gewesen war. Doch als sie die Augen nach einigen Augenblicken wieder öffnete, sich vielmehr dazu zwang, wieder hinzuschauen, war das Loch immer noch da. Und aus dem Loch ragte ein Kopf.
Der Kopf blinzelte zunächst irritiert in das Licht der Lampe, fing dann aber zu lächeln an. Melka musste zugeben, dass ihr das Gesicht sympatisch war, wenn da nicht...
    »Hallo«, sagte da der Kopf plötzlich. Seine Stimme war tief und in gewisser Art merkwürdig. Melka stellte fest, dass er das Wort ungewohnt eigenartig betonte.
    »Schön, dass es woanders auch noch Menschen gibt!« rief er freudestrahlend aus. »Aber nimmt doch bitte das Licht von mir. Ihr blendet mich.«
Tatsächlich wurde die Lampe verschoben, so dass das Ding nicht mehr im Lichtkreis lag. Sofort verschwand es in der undurchdringlichen Dunkelheit des Weltenrandes.
    »So ist es schon besser«, fuhr die Stimme aus der Finsternis fort. »Wartet ich komme zu euch!«
    Komme zu euch! hallte es in Melka nach. Es... er will kommen!
    Mühsam unterdrückte sie den Fluchtreflex und zwang sich, stehen zu bleiben.
    Das ist doch nur ein Mensch, flößte sie sich Mut ein. Nicht der Tod, oder vielleicht getarnt?
    Melkas Knie fingen an zu zittern. Sie zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, doch sie widersetzten sich ihrer Kontrolle. Dann tauchte der Unbekannte direkt vor ihr aus der Dunkelheit auf. Mit einem überraschten Aufschrei sprang sie einige Schritte zurück. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie zuletzt nur noch auf ihre Knie und nicht mehr auf den Rest geachtet hatte.
    »Keine Angst!« Der Unbekannte machte eine beschwichtigende Geste und lächelte beruhigend. Melka fiel erneut die fremdartige Wortbetonung auf. »Ich bin harmlos.«
    »Wer?« brachte sie mühsam hervor.
    »Mein Name ist Vries« antwortete er freundlich. »Und deiner?«
    »Melka«, sagte sie mit bereits etwas festerer Stimme. »Und die anderen sind Ganya und Pet.«
    »Welche anderen? Ich sehe nur einen.«
    Melka blickte sich schnell um. Einige Schritte neben ihr stand Pet mit der inzwischen ausgeschalteten Lampe. Von Ganya war nichts zu sehen.
Ganya! durchfuhr es sie wütend. Was für ein Angsthase!
    »Sie hatte offenbar, äh, angst«, musste sie zugeben.
    Vries ging nicht darauf ein, sondern machte eine umschweifende Geste.
    »Wie nennt ihr diese Welt hier?«
    »Diese Welt?« fragte Melka irritiert.
    »Ja, euer Überlebensbunker muss doch einen Namen haben!«
    »Überlebensbunker?!“ Diesen Begriff hatte Melka noch nie gehört.
    »Ah, ich verstehe. Hier ist viel Wissen verloren gegangen...«

    Die nächsten Stunden wurden zu den interessantesten in Melkas Leben. Sie erfuhr viele faszinierende Dinge. Sie erfuhr, dass Menschen vor Urzeiten an der Oberfläche gelebt hatten. Melka stellte sich die Oberfläche als eine riesige Welt vor, in der es keine Decke und keinen Rand gab und die Sonne in unermesslichen Höhen schwebte. Besonders den fehlenden Rand fand sie aufregend, denn Vries erklärte ihr, dass man, wenn man immer in eine Richtung ging, irgendwann wieder an seinem Ausgangspunkt ankam. Sie konnte sich dies einfach nicht vorstellen.
    Irgendwann, auch dies war schon viele hundert Generationen her, kam der Tod über die Menschen. Vries erklärte, dass die damaligen Menschen ihn selbst herbei geführt hatten, da sie sich gegenseitig bekämpft hatten.
    Jetzt erkannte Melka auch ihre Legenden wieder, als Vries berichtete, dass einige Menschen im Angesicht der tödlichen Bedrohung Welten wie die, in der sie lebte, schufen und in diese flüchteten. Der Versuch gelang und die Flüchtllinge überlebten, fortan aber isoliert vom Rest der Menschheit.
    »Meine Vorfahren nannten ihre Welt nach dem Teil der Oberfläche, den sie zuvor bewohnt hatten, Kanada«, schloss Vries. »Bei uns ging allerdings im Gegensatz zu dieser Welt hier das Wissen um das Vorher und die Existenz anderer Welten, genannt Überlebensbunker, nicht verloren.«
    »Wieso hat man keinen Kontakt gehalten?« kombinierte Melka. »Man hätte doch die Welten durch Türen...«
    »Du hast gar keine Vorstellung davon«, unterbrach Vries sie, »wie weit Kanada und eure Welt, die wir anhand des Ortes für Europa halten müssen auseinander liegen.«
    Europa... ließ Melka den Namen nachklingen. So hieß ihre Welt also, wahrscheinlich. Bis vor kurzem hätte sie nicht mal zu träumen gewagt, dass ihre Welt überhaupt einen Namen hatte, geschweige denn, dass es noch andere wie Kanada gab.
    »Vor der Flucht muss es wohl Funkgeräte gegeben haben«, fuhr Vries fort. »Aber sie scheinen in den Überlebensbunkern nicht mehr funktioniert zu haben.«
    »Was sind Funkgeräte?«
    »Kleine Kästen, in die man hineinspricht. Derjenige, mit dem man sich unterhalten will, hat auch so eines und kann das hören. Das funktioniert über große Entfernungen und ohne direkten Kontakt der Funkgeräte, selbst wenn man den anderen aufgrund der Weite oder eines Hindernisses nicht mehr sehen kann. Aber offenbar nicht durch den Weltenrand.«
    »Hmm«, machte Melka nur nachdenklich. So etwas war ihr doch zu unbegreiflich. Stattdessen wies sie auf das Ding, mit dem Vries gekommen war. »Aber damit konntest du den Rand durchdringen?«
    »Nur den Rand?« Er lachte humorlos auf. »Die ganze Strecke zwischen hier und Kanada: Tausende von Kilometern! Und überall bohren!«
    Tausende von Kilometern. Tausende! durchfuhr es Melka. Sie erinnerte sich an die Tage, an denen sie mit Ganya den Rand der Welt abgeschritten war. Dreißig Kilometer hatten sie dabei zurück gelegt, und das war ihr schon ungeheuer viel vorgekommen.
    Vries hatte ihr Erstaunen offensichtlich nicht übersehen und nickte übertrieben.
    »Viele Generationen  hat es gedauert bis hierhin vorzustoßen. Ich habe nicht mit der Bohrung angefangen, sondern einer meiner Ahnen war es. Bis vor kurzem hatte ich noch gedacht, bis an mein Lebensende weiterbohren zu müssen, nur unterbrochen durch Aufenthalte in Kanada, wenn man abgelöst wurde und mit dem Nahrungstransport zur Welt zurückfuhr.«
    »Bis vor kurzen? Also, bis du hier ankamst?«
    »Nein, schon viel früher. Hätten wir einfach willkürlich gegraben, hätten wir euch nie gefunden. Nur aufgrund alter Oberflächenkarten, auf denen die Welten eingetragen wurden und eines Hilfsmittels namens Sonartomograf konnten wir Europa finden. Denn dieser Sonartomograf, mit dem man im Prinzip durch Wände wie den Weltenrand und den Raum dazwischen sehen kann, zeigte uns eure Welt zumindest der Richtung nach an.«

    Einige Wochen später machte sich ein Erkundungstrupp auf dem Weg nach Kanada, zu dem natürlich auch Melka und Ganya gehörten. Sie lernten eine völlig neue Welt kennen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Besucher aus der Welt Europa wurden herzlich willkommen geheißen und erzählte sich viele Geschichten, doch viel mehr als von Vries konnte Melka hier nicht erfahren.
    Nach einigen Monaten beschloss man, nach diesem Erfolg auch weitere Tunnel zu anderen Überlebensbunkern zu graben. Im Gespräch waren Russland, Arabien und Japan. Letztlich entschloss man sich für Russland.
    Quälend langsam schob sich der Bohrer, mit dem Vries ursprünglich nach Europa gekommen war, in den Rand, Handbreit für Handbreit, tagein, tagaus. Zuerst beobachtete das Melka voller Interesse, doch dann beschäftigte sie sich mit etwas völlig anderen...

    »Schau mal, wie locker hier das Gestein wird, wie Erde!« rief Melka überrascht und lies das Material verbröseln, dass sie aus der Wandung gegriffen hatte.
    »Wie kann es hier oben Erde geben?« fragte Ganya zweifelnd, tastete dann aber auch nach der Wand. »Tatsächlich!«
    Nachdem sich Melka den Bohrer im Betrieb lange genug angeschaut hatte, gelang es ihr schließlich, selbst einen Bohrer zu bauen, wofür sie viele Werkzeuge aus der Stadt verwendete. Glücklicherweise bemerkte niemand etwas davon und so konnte Melka schließlich ihren eigenen Tunnel graben. Melkas Bohrer war ein reines Werkzeug, nicht mit einer Kabine ausgestattet wie der der Kanadier, so mussten sie ihn von Hand weiterschieben. Einen Zerstäuber hatten sie auch nicht, so dass sie den Abraum von Hand aus dem Tunnel räumen mussten. Glücklicherweise fiel dies in der Dunkelheit am Rand der Welt nicht weiter auf.
    Zuerst gruben sie nur geradeaus, eine anstrengende Arbeit, wenn man den Bohrer immer von Hand gegen den Felsen pressen musste, doch dann stiegen sie in immer steileren Winkel nach oben, bis es nicht mehr steiler ging. Dadurch, dass sie nur einen kleinen Tunnel gruben, kamen sie sogar schneller voran als die Anderen und so hatten sie etwa 6 Wochen später schon etwa 3 Kilometer Höhenunterschied zurück gelegt.
    »Dann stimmt es also wirklich«, murmelte Melka, »dass die Menschen früher oben gelebt haben und der ganze Boden von Erde bedeckt war... Bald müssten wir es geschafft haben!«
    »Und wenn da jetzt doch der Tod lauert?« flüsterte Ganya.
    »Hat er am Rand gelauert?« fragte Melka zurück. »Nein! Stattdessen haben wir eine neue Welt voller freundlicher Menschen gefunden.«
    »Ja, aber diese Legende kannten diese Menschen auch!«
    »Wenn du so viel angst hat, warum bist du dann überhaupt mit gekommen?«
    Darauf fiel ihr nichts mehr ein und sie schwieg.
    Durch die Erde kamen sie nun viel schneller voran, dafür merkten sie aber, dass der Gang unsicher wurde. Immer wieder bröckelte etwas von der Decke ab und sie hofften, dass er nicht einstürzen würde. Doch die Neugier war stärker, so liefen sie auch nicht zurück, um etwas zum Abstützen zu holen.
    »Gleich müssten wir an der Oberfläche sein!« sagte Melka immer wieder, wenn einige Brocken von der Decke fielen und beide ängstlich dorthin blickten. »Dann wissen wir bescheid.«
    Sie hatte es gerade wieder gesagt, als der Bohrer plötzlich einen Satz nach vorne machte und verschwand. Ganya, die momentan mit der Bedienung dran war, fiel zu Boden.
    »W-was... ?« murmelte sie.
    »Ganya, schau dir das an!« rief Melka nur.
    Ganya stand auf, wischte sich den Staub aus dem Gesicht und starrte dann aus dem Loch. Hinter diesem war nur Dunkelheit, die auch ihre Lampe nicht erhellen konnte, doch diese Dunkelheit war nicht vollkommen. Sie wurde durch unzählige kleine Lichtpunkte teilweise erhellt, die über dem Loch zu schweben schienen.
    Melka und Ganya kletterten aus dem Loch und schauten sich um. Zwei Schritten vor ihnen lag der Bohrer, immer noch aktiviert, doch das war den Freundinnen egal. Rings um das Loch, dass sie gegraben hatten, breitete sich ein gigantisches Beet aus, jedoch mit sehr trockener Erde und ohne Pflanzen. In einiger Entfernung hob sich gegen die Lichtpunkte ein zerstörtes Haus ab, noch weiter hinten war eine Fläche, in der sich der Himmel spiegelte.
    Melka schaltete jetzt doch den Bohrer ab. Eine vollkommene Stille breitete sich aus.
    »Mir gefällt das hier nicht«, raunte Ganya. »Hier gibt es gar keine Sonne...«
    »Kalt ist es auch«, stellte Melka fest. »Wer weiß, wie die Menschen damals gelebt haben.«
    »Was das da wohl für eine Fläche ist?« Ganya deutete auf die Spiegelfläche.
    »Lass’ und doch einfach nachschauen!«
    Der Weg erwies sich als weiter, als erwartet und so benötigten sie etwa eine halbe Stunde, bis sie endlich ankamen.
    »Wasser!« rief Melka überrascht. »Das ist Wasser!«
    »So eine gigantische Menge!« stellte Ganya fest.
    Melka hockte sich hin und hielt die Hand hinein.
    »Es ist kalt.«
    Sie führte die Hand zum Mund und nahm einen Schluck.
    »Hmm... viel besser als das Wasser bei uns. Probiere mal!«
    »Lecker! Wir sollten uns etwas mitnehmen«, schlug Melka vor. »Aber verrate niemanden, wo wir es her haben.«
    Sie leerten ihre eigenen Proviantflaschen und füllten sie mit dem Wasser der Oberfläche, dann machten sie sich auf dem Rückweg.
    Kurz bevor sie das Loch erreichten, blieb Melka plötzlich stehen.
    »Da sind andere«, sagte sie zu Ganya.
    »Wo?«
    »Da vorne. Ich kann ihre Lichter sehen!«
    »Ich sehe nichts.«
    »Doch direkt da vorne.« Melka drehte sich zu Ganya um. »Jetzt sind sie hinter... nein vor dir!«
    Sie rieb sich die Augen, dann stockte sie plötzlich und ließ die Fäuste auf die Augen gepresst.
    »Sie sind in meinen Kopf!«
    Sie ließ sich zu Boden sinken und zitterte.
    »Mir ist kalt...«
    Ganya setzte sich neben sie. »Was ist los mit dir?«
    »Ich weiß nicht... ich sehe helle, intensive Punkte, die vor meinen Augen tanzen. Wie Lampen, die jemand in einiger Entfernung umher schwingt. Es hört nicht auf, selbst wenn ich die Augen schließe.«
    »Setzt sehe ich sie auch!« stammelte Ganya fassungslos.
    Währenddessen zog Melka sich die Jacke aus. »Was für eine Hitze...«
    Ganya zitterte. »Mir ist kalt.«
    »Das war mir auch, aber jetzt ist mir heiß... und diese Punkte...« Sie legte sich hin. »Ich halte das nicht mehr aus...«
    »Wir sollten schnell zurück nach Hause!« schlug Ganya vor.
    Melka nickte und versuchte aufzustehen, was ihr aber misslang.
    »Ich kann nicht, mir ist ganz schwindelig...«
    Ganya versuchte es ebenfalls vergeblich.
    »Was geschieht mit uns... ?«
    Sie schauten sich gegenseitig an und stellten entsetzt fest, dass sich ihre Gesichter rötlich verfärbt hatten.
    »Der Tod...« raunte Ganya.
    »Nein!« schrie Melka und krabbelte auf das Loch zu.
    »Das haben wir jetzt von unserer Neugier, Melka«, krächzte Ganya hinter ihr. »Lass’ es sein, es hat keinen Zweck mehr...«
    »Es... gibt... keinen... Tod!« keuchte Melka und schob sich weiter auf das Loch zu. »Ich... entkomme... ihn!«
    Die schrie triumphierend, als ihre Finger den Rand zu fassen bekamen. Nur noch ein Stückchen, dann würde die Neigung des Tunnels sie von alleine nach untern rutschen lassen.
    Dann wurden ihre Finger taub.
    Fassungslos wollte sie sich vor die Augen halten, doch dabei verhakten sich ihre Hände mit der Flasche an ihrem Gürtel, die daraufhin in das Loch fiel und den Tunnel hinunter polterte.
    Zuerst kollte Melka ihr hinterher schauen, doch dann wurde es dunkel, oder vielmehr – sie wurde blind!
    »Ganya« rief sie hysterisch nach der Freundin, doch ihr antwortete nur ein leises Gurgeln, dann erstarb auch dieses Geräusch.

Alexander Nofftz, August 1999

 
ENDE

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