Der letzte Ritter

Eine   Von
  Marc Annaheim (marc.annaheim@balcab.ch)
Kurzgeschichte   Copyright © 1998

 

EEs ist Nacht auf diesem Teil der Welt. Vor einem Gebilde, das sich nahtlos in die unberührte Natur einfügt und die Form des unteren Teiles eines der riesenhaften Knollenbäume besitzt, sitzen zwei grundverschiedene Wesen. Umgeben von der in Dunkelheit liegenden Natur, die erfüllt ist von unzähligen, von Leben zeugenden Geräuschen, und die immer in Bewegung ist durch die vielfältigen Wesen, aus denen sie besteht, und die von ihr leben, sind die beiden Stimmen beim leisen Gespräch zu hören.
   Die Eine ist die eines Menschen; trotz seiner grauen Haupthaare und seines grauen Bartes, seines erfahrenen, markant scharf geschnittenen Gesichts nicht alt, sondern zeitlos aussehend.
   Das andere Wesen ist ein Kind dieser Welt, von hoher, schlanker Gestalt. Der lange, schmale Kopf von einer Sehleiste in der Mitte umrundet; darunter, unter einem schützenden Kranz von fleischigen Tastfortsätzen verborgen, die Hör- und Sprachorgane. Der Rest des Körpers bedeckt mit Haaren in allen möglichen Grüntönen, zwischen denen regelmäßig verteilt sechs unbehaarte Gliedmaßen herausragen. Die beiden Wesen werden nur vom Licht zweier Monde und dem der Sterne beschienen. Der Mensch beginnt soeben, nach einer längeren Pause, mit einer neuen Geschichte: »So werde ich nun also dir, mein Freund, die Geschehnisse berichten, die dazu führten, dass ich meine eigene Heimatwelt verließ und in den Weltraum aufbrach. Viele der Ereignisse werden dir fremd vorkommen; doch ich werde versuchen, die wichtigen Dinge so zu schildern, dass sie verständlich sind. Nun beginnt also die Geschichte zweier grundverschiedener Wesen, die sich, durch Zufall oder Vorherbestimmung mag ich nicht beurteilen, trafen und schließlich Freunde wurden.«

*  *  *

Obwohl seine Lebensspanne erst ein viertel Sonnenalter betrug, wurden seine Gedanken davon beherrscht, die schützende Nähe seines Geburtssterns zu verlassen und in den Weiten des Lebensraums nach Erkenntnissen zu suchen. Seine Ungeduld war wohl darin begründet, dass die Älteren oft von den Wundern berichtet hatten, die der Lebensraum bereithielt. Wieder und wieder war den Jüngeren während den Schulungen auch von den schier unendlichen Möglichkeiten, im Lebensraum Erfahrungen zu machen, berichtet worden. Es sah also nicht ein, wieso es ein weiteres viertel Sonnenalter ausharren sollte, bis es sich endlich in die Ferne aufmachen durfte, nachdem seine Neugier so sehr geschürt worden war. So kam es, dass es einen günstigen Moment abwartete, indem es von den Anderen unbewacht war, und sich trotz aller Warnungen und Mahnungen der Älteren aufmachte, die Wunder des Lebensraums zu erkunden.

*  *  *

Es war ein Morgen, wie viele andere auch. Punkt sechs Uhr machte die Videowand ihren ersten Weckversuch, den ich natürlich wie immer diskret ignorierte. Zehn Minuten später schraubte die Automatik den Ton empfindlich in lautere Gegenden hoch, ganz nach dem Programm, das ich meinem Computer (leider) eingegeben hatte. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, weiter zu schlafen, denn wie meistens, wenn man das Fernsehprogramm einschaltete, lief eine penetrante Werbebotschaft nach der anderen. Was waren das noch für Zeiten als die Werbeblöcke gesetzlich in der Dauer und Häufigkeit beschränkt waren!
   Ich stand also schließlich auf, duschte kurz und fing an mich zu rasieren. Was ich im Spiegel sah, gefiel mir eigentlich nicht schlecht; die leicht angegrauten Haare, das markante Gesicht mit der nicht zu großen Nase und mein kleiner Schnäuzer.
   Das einzige, was störte, waren die schrecklichen Ringe unter den Augen. Aber die würden wieder verschwinden, und schließlich war nur einmal im Jahr Polizeiball.
   Als ich nun auf meine Uhr blickte, fiel mir auf, dass ich ob meiner Eitelkeit wieder mal Zeit vertrödelt hatte, genauer gesagt, die Zeit fürs Frühstück. Also stieg ich in meinen Wagen und beeilte mich, rechtzeitig zur Polizeistation zu kommen.
   Dank meiner Autorität, die ich mit einem Einsatz des Blaulichtes den anderen Verkehrsteilnehmern bewusst machte, schaffte ich es gerade noch.
   Doch als ich mich meinem Schreibtisch näherte, wusste ich schon, dass der heutige Tag alles andere als normal ablaufen würde. Ich wollte schon wieder unauffällig verschwinden, als ich die Stimme meines allseits gehassten Vorgesetzten nach mir rufen hörte. Das allein wäre eigentlich nicht besonders besorgniserregend gewesen, wenn nicht neben ihm Frank Hollows, Sicherheitsbeauftragter der vereinigten Weltstreitkräfte in Kalifornien, gestanden hätte.
   Das konnte eigentlich nur eins bedeuten: irgend eine bedeutende militärische Person bei einem öffentlichem Auftritt zu beschützen. Dies wiederum bedeutete nur Ärger. Denn falls meine Truppe Erfolg hatte, würde dieser Erfolg von allen als selbstverständlich angesehen werden. Was noch schlimmer war, ich würde von meinem Chef wieder vorgeschlagen werden, wenn wieder mal so ein Auftrag anstand. Wenn hingegen dieser sogenannten Persönlichkeit etwas geschehen sollte, konnte ich meinen Job vergessen.
   Ich drehte also missmutig um und ging in Richtung meines Schreibtisches. Lieutenant Parker schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: »Da sind Sie ja endlich, Dawson. Mr. Hollows hat einen Auftrag für Sie, hören Sie also genau zu.«
   Ich wollte schon protestieren, doch Parker erstickte meinen Einwand, indem er dazwischenrief: »Ruhe, Dawson. Ich weiß, dass sie einander nicht gerade lieben, aber ich habe jetzt nicht den Nerv für Ihre Spielchen. Kommen Sie mit, wir sprechen in meinem Büro weiter.«
   Na, das war jetzt wirklich ungewöhnlich. Sonst scheute sich der Chef nicht, mir vor allen Kollegen die Unangenehmsten Aufgaben aufzubrummen oder mich zur Schnecke zu machen. Wenn niemand mithören durfte, musste es sich um mehr handeln, als bei irgendeiner Rede Präsenz zu üben. Aber wenn es wirklich etwas wichtiges war, warum betraute Parker dann mich damit?
   Wir verließen also die große Bürohalle und begaben uns in das mit Glaswänden abgegrenzte Arbeitszimmer meines Chefs.

*  *  *

Zuerst durchquerte es den Lebensraum wahllos, und bewunderte völlig überwältigt die zahllosen Wunder, deren Wege es zufällig kreuzte. Es spürte Sonnen, die ähnlich waren wie die, der es seine eigene Existenz verdankte, es spürte aber auch völlig anders geartete Lebensgründer, einige jung und erst im Entstehen begriffen, andere unglaublich alt, in deren Gegenwart es sich nicht mehr erfahren und weise vorkam, sondern jung und töricht. Im Angesicht solch geballter Erhabenheit kamen ihm auch manchmal Zweifel auf, ob sein Verlangen nach der Ferne, nach den Schätzen des Lebensraums gerechtfertigt war, oder ob es für ein so junges und unerfahrenes Wesen nicht töricht und vermessen war, alles wissen und sehen zu wollen.
   Doch solche Empfindungen vergingen spätestens dann wieder, wenn es das nächste Wunder entdeckte und ob seiner Strahlenden Schönheit alles andere vergaß.
   Aber nicht nur Wunderbares, sondern auch die Gefahr wartete auf einen neugierigen Wanderer. Es traf auch auf tote Sonnen, die sich in alles verschlingende Ungeheuer verwandelt hatten, und deren erste Tat die Vernichtung der Planeten und der Wesen darauf gewesen war, denen sie vor langer Zeit das Leben geschenkt hatten. Es, dessen Namen nicht mit Worten ausgedrückt werden konnte, war traurig darüber; doch gleichzeitig wusste es, dass das oberste Gesetz des Universums, das ewige Entstehen und Vergehen aller Dinge und Lebewesen, die sind, wichtig und gut war. Denn ohne den Tod würde es auch keine Neugeburten geben, ohne Vergehen keinen Fortschritt. Und so setzte es seinen Weg durch den Lebensraum fort, bedrückt durch den Tod ungezählten Lebens, aber gleichzeitig auch überwältigt von der ungeheuren Weisheit dieses unverrückbaren Gesetzes.
   Es beschloss nun, kurzlebige Wesen, von denen es von den Älteren erfahren hatte, selbst aufzusuchen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es machte sich also zu einem Ort auf, den die Älteren vor nicht allzu langer Zeit besucht hatten, und sie hatten auch Kontakt mit den Kurzlebigen dort gehabt. Es wusste jedoch, dass eine Zeitspanne, die für seine Art kurz erschien, für die Kurzlebigen viele Generationen umspannen konnte; es brannte darauf zu erfahren, was aus diesen Wesen geworden war, und ob sie sich noch an seine Art erinnerten. Voller Vorfreude machte es sich auf, dies alles in Erfahrung zu bringen.

*  *  *

»Lieutenant, können sie mir sagen was das alles soll? Und warum haben sie ausgerechnet mich dafür vorgeschlagen?«
   Hollows hatte in Rätseln gesprochen. Er hatte irgend etwas von einem kosmischen Ereignis erzählt, von einem Meilenstein in der Erforschung des Universums, aber auch von einer eventuellen Gefahr, die den ganzen Planeten bedrohen könnte.
   Parker antwortete, mit einem undefinierbaren Lächeln auf den Lippen: »Ich weiß auch nicht mehr darüber, als was Mr. Hollows gerade erzählt hat. Aber ich habe sie vorgeschlagen, weil sie mein bester Mann sind.«
   Zuerst war ich sprachlos. So etwas aus dem Mund meines Chefs zu hören, überraschte mich nicht schlecht. Doch dann gewann Misstrauen die Oberhand. Ich entgegnete: »Kommen sie, Lieutenant. Sie wollen mir doch nur Honig um den Bart streichen, damit ich dankbar diesen natürlich unangenehmen Auftrag annehme. Aber nicht mit mir!«
   Parkers Lächeln verschwand, und sein Gesicht bekam einen Ausdruck, der jede weiteren Spielchen meinerseits verbot. »Hören sie, Dawson. Ich meine das wirklich ernst. Ich brauche jemanden, der vor einer Kamera sprechen kann und einen kompetenten Eindruck macht. Außerdem sollte diese Person ein guter Polizist und fähig sein, die Dinge objektiv zu betrachten.«
   Ich gab mich weiterhin kritisch, denn ich wusste, dass die Leute vom Militär mit der Einschätzung, etwas sei eine Bedrohung für die allgemeine Sicherheit, oft etwas schnell zur Stelle waren.
   »Sir, sie nehmen das Gerede von einem kosmischen Ereignis und einer globalen Gefahr doch nicht etwa ernst?«, antwortete ich daher meinem Chef.
   Doch Parker schien anderer Meinung zu sein.
   »Ich glaube schon, dass es diesmal wirklich wichtig ist, Danny. Wenn zum Militär auch noch das FBI, die CIA und andere Geheimdienste der ganzen Welt auftauchen, kann es sich kaum um ein Windei handeln. Ich möchte, dass sie diese Sache gewissenhaft und ohne Vorurteile behandeln. Ich überlasse sie nun Mr. Hollows und werde mich zurückziehen. Er ist der Meinung, je weniger Leute die Einzelheiten wissen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass frühzeitig etwas an die Öffentlichkeit gelangt.«
   Nachdem mein Chef das Büro verlassen hatte, forderte mich Hollows auf, ihm zu folgen.
   »Kommen sie, Dawson. Draußen wartet ein Wagen auf uns.«
   »Und wohin verschleppen sie mich? Wissen sie, ich bin immer ein wenig misstrauisch wenn das Militär mich irgendwohin bringt ohne dass jemand Anderes weiß, wo ich bin. Da kann es leicht passieren, dass ich auf Nimmerwiedersehen verschwinde«, stichelte ich.
   »Na, sie werden schon noch früh genug erfahren, wohin es geht. Die Wände haben Ohren; das sollten sie doch wissen!«, antwortete er mit einem genüsslichen Grinsen auf den Lippen. »Außerdem sollten Sie nicht denken, wir wären etwa auf Sie angewiesen. Ich will sie nur als Repräsentant und Kenner der hiesigen Verhältnisse und Bevölkerung. Laut ihrem Chef kennen Sie die Presse und wissen wie die Leute reagieren könnten.«
   Es machte ihm richtig Spaß, mich in Ungewissheit schmoren zu lassen. Da mir aber nichts anderes übrig blieb, fügte ich mich und folgte ihm, mein Interesse langsam erwachend, ob der ganzen großartigen Ankündigungen.

*  *  *

Als es den schnellen Raum in der Nähe der Welten dieser Wesen, die es besuchen wollte verließ, begann es gleich mit der Suche nach Signalen und Ausstrahlungen, die für Wesen der vermuteten Entwicklungsstufe typisch waren. Doch es konnte keinerlei Anzeichen von schneller oder langsamer Strahlung spüren, die meist zur Kommunikation zwischen Kurzlebigen verwendet wurde. Zuerst war es darüber beunruhigt, doch dann kam ihm ein aufregender Gedanke: sollten diese Wesen so viel weiter entwickelt sein als es gedacht hatte und sich nur noch Kraft ihrer Gedanken untereinander verständigen? Doch auch im Gedankenspektrum konnte es keinerlei Signale wahrnehmen. Voller schlimmer Vorahnungen überquerte es die Grenze zum Weltensystem. Als es sich der künstlich geschaffen Überlebenshülle näherte, bei der die Älteren zuletzt Kontakt gehabt hatten, sah es seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Riesige Löcher mit unregelmä&szli   g;igen, gezackten Rändern, aus denen die zerstörten Streben wie die todbringenden Zähne aus dem Mund eines Ungeheuers von Taltema ragten, von dem es von den Älteren gehört hatte, bedeckten weite Teile des geschundenen Körpers der Hülle. An anderen Stellen waren ganze Teile abgerissen worden, durch eine feindselige, gewalttätige Macht, die scheinbar ohne Grund alle Wesen, die einst die Hülle bewohnten, aus dem Leben gerissen hatte.
   Obwohl ohne große Hoffnungen, näherte es sich den einstmals bewohnten Welten des Systems. Auch sie waren zu verlassenen, lebensverunmöglichenden Wüsten geworden; voller Schrecken wurde dem Reisenden nun endgültig und mit schrecklicher Konsequenz bewusst, das hier kein einziges lebendes Wesen mehr existierte.
   Schon wollte es sich voller Abscheu vor diesen Untaten unbekannter, fremder Aggressoren abwenden und sich so schnell wie möglich von diesem Ort der sinnlosen Vernichtung entfernen, als es doch noch ein schwaches, undeutliches Signal, das aus langsamer Strahlung bestand, bemerkte. Zwar war die Quelle künstlich, denn es hatte hier keine Wesen gegeben die sich von Natur aus der langsamen Strahlung bedienen konnten, doch bestand wenigstens Hoffnung, etwas über das genauere Schicksal der Wesen herauszufinden.
   Es konzentrierte sich also auf die Nachricht, und begann, nachdem sie sich das erste Mal wiederholt hatte, mit der Übersetzung. Es dauerte eine Zeit lang, bis es ihm möglich war den Sinn zu verstehen. Das lag nicht daran, das der Text schwierig zu übersetzen war. Es lag an seinem Inhalt. Er lautete: »Zentraler Angriffsrechner bereit. Abschussrampen mit nuklearen Angriffseinheiten bereit. Erwarte Definierung der Einschlagskoordinaten auf Stratomkosch.«
   Wenige, einfache Worte, und doch von so großer Tragweite, dass der Besucher erst jetzt begriff, was geschehen war. Stratomkosch war der zweite der beiden ehemals bewohnten Planeten. Der Ursprung der Nachricht war der erste Planet. Kein Angriff einer fremden Macht hatte die Morde zu verschulden. Die einst friedlich zusammenlebenden Wesen hatten sich gegenseitig vernichtet.

*  *  *

Nach etwa einer halben Stunde Fahrt, Hollows saß selbst hinter dem Steuer, kamen wir an unserem Ziel an. Es war das Stanford Ames Institute for Space Research von San Jose, was der ganzen Sache neue Glaubwürdigkeit verlieh, denn das Institut war angesehen und seriös.
   Als wir ausgestiegen waren und uns dem Gebäude näherten, war ich beeindruckt. Ich hatte zwar vom Neubau gelesen und Bilder gesehen, war aber bis jetzt nie persönlich in seine Nähe gekommen.
   Das neue Institutsgebäude war erst seit etwa einem halben Jahr fertiggestellt, nachdem man mit dem Bau vor zwei Jahren begonnen hatte. Damals war der alte Institutskomplex vom großen Erdbeben im Jahre 2029 vollkommen vernichtet worden, zusammen mit großen Teilen der Stadt San Jose und ihrer weiteren Umgebung. Der Bau hatte ziemliche Kontroversen hervorgerufen, denn er war, vorsichtig ausgedrückt, recht unkonventionell. Das Gebäude bestand aus einer 100 Metern durchmessenden Kugel, die auf einem 20 Meter breiten und 6 Meter hohem Sockel ruhte. Die Kugel selbst war so gefärbt worden, dass die Kontinente, Inseln und Meere unseres Planeten die Oberfläche bedeckten; kurz gesagt, das ganze Gebäude war ein riesiger Globus. Was immer Kritiker sagen mochten, mir gefiel es.
   Wir betraten also das Institut; Hollows wandte sich der Reception zu und meldete sich dort beim Portier an: »Guten Tag. Mein Name ist Frank Hollows, das ist Mr. Dawson. Professor Wang erwartet uns.«
   »Ja, sie sind im Besucherverzeichnis eingetragen. Nehmen sie einfach den Aufzug in die 5. Etage, und gehen sie den Korridor entlang bis sie zu einer Tür mit seinem Namen kommen. Er erwartet sie dort.«
   Daraufhin durchquerten wir die große Empfangshalle, in deren Mitte ein beeindruckend gigantomanisches Modell unserer Sonne und ihrer inneren Planeten stand, welche sich um die Sonne bewegten, und begaben uns zu den Aufzügen an der dem Eingang gegenüber gelegen Seite der kreisrunden Lobby. Die Aufzüge waren hochmoderne, sprachgesteuerte Modelle; Hollows bestellte einen nach oben. Im fünften Stock gingen wir den Korridor entlang, an dessen Wänden Bilder von Galaxien und einzelnen Sonnen hingen. Ob es echte Photos oder Computerbilder waren, konnte ich nicht erkennen. Bei der Tür zu Wangs Büro angelangt, ging diese auch sogleich von alleine auf; es schien, das uns verborgene Kameras registriert und als berechtigt eingestuft hatten. Drinnen saß ein junger Mann von schätzungsweise dreißig Jahren am Computer und schien gerade eine Sternenkarte zu betrachten, soweit ich es beurteilen konnte. Er war recht klein, trug langes, schwarzes Haar und hatte ein asiatisch aussehendes Gesicht. Nachdem er aufgestanden war kam er auf uns zu und begrüßte uns beide mit Namen.
   »Ah, Mr. Hollows und Mr. Dawson. Schön sie kennenzulernen. Ich bin Professor Wang.«
   Wir grüßten zurück und schüttelten ihm die Hand.
   »Kann ich ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte der Professor.
   Ich wollte schon dankend annehmen, doch Hollows schnitt mir das Wort ab.
   »Vielen Dank, Professor, aber ich habe heute noch einiges zu tun. Ich würde gerne sofort anfangen.«
   »Wie sie wollen. Aber bitte, nennen sie mich nicht Professor. Ich heiße Jim.«
   Der Mann war mir gleich sympathisch. Ich sagte zu ihm: »Wissen sie Jim, die ganze Geheimnistuerei hat mich ziemlich neugierig gemacht. Aber ich denke, wir können trotzdem einen Kaffee trinken während sie alles erklären.«
   »Einverstanden. Ich werde drei Tassen holen gehen.«
   »Ach nein, ich denke sie sollten gleich anfangen zu erzählen. Mr. Hollows hat es ja eilig, da wird es ihm sicher nichts ausmachen, uns einzugießen während sie schon beginnen. Nicht wahr, Frank?«
   Da konnte er nicht mehr ablehnen, und ging wohl oder übel in Richtung Kaffeekanne davon.
   Ich zwinkerte Jim grinsend zu, und er grinste zurück.

*  *  *

Das Wandernde blieb lange Zeit bewegungslos an der gleichen Stelle. Es hatte von den Älteren davon gehört, dass es Wesen gab die voller Aggression waren und ihre Zerstörungswut auch an ihren eigenen Artgenossen ausließen. Doch bis jetzt hatte es nicht glauben wollen, das intelligente Wesen zu solcher Grausamkeit und Dummheit fähig sein konnten. Doch nun hatte es selbst erlebt, dass es doch möglich war. Schließlich, nach langem Nachdenken, wurde es ihm möglich, die Geschehnisse als Bestandteil des Universums zu akzeptieren. Wo kein Schatten war, war entweder kein Licht oder nichts, das ihn warf. Aber verstehen konnte es die Katastrophe nicht.
   Als es sich wieder aufraffen konnte, seine Reisen fortzusetzen, beschloss es eine Welt zu besuchen, die, nach Aussage der Älteren, nur primitives Leben auf dem Weg zur Intelligenz beherbergte. Da konnte keine Gefahr bestehen, dass sich eine ähnliche Katastrophe ereignet hatte.
   Nachdem der Entschluss erst einmal gefasst war, beeilte es sich in den schnellen Raum einzutauchen und machte sich auf den Weg. Am Ziel angekommen, wollte es sich auf der Welt niederlassen und erst einmal beobachten, ohne Kontakt aufzunehmen.

*  *  *

Es begann schon dunkel zu werden, als ich alleine mitten im ehemaligen Silicon Valley stand, vor mir das Objekt, das in den letzten drei Monaten so sehr die Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Hier, in diesem Tal, das früher einmal der wichtigste Ort für die Computerindustrie gewesen war bevor man die biologisch-neuronalen Rechner entwickelt hatte, war das Objekt eingeschlagen. Glücklicherweise war die Gegend jetzt unbewohnt, sonst hätte man es schon im Weltraum vernichten müssen. Obwohl ich nicht sicher war, dass dies auch möglichen gewesen wäre. Denn schon beim ersten Versuch, den riesigen Felsbrocken, denn nichts anderes war es, mit Lasern aufzuschneiden, hatte sich auf seiner Oberfläche eine Schicht unbekannten Materials gebildet, die jedem weiteren Öffnungsversuch problemlos widerstanden hatte.
   Jim Wang hatte mir bei unserem Treffen erzählt, das dieser 238 Meter messende Meteor mitten ins Valley einschlagen würde. Das wäre aber den ganzen Aufmarsch der Geheimdienste und des Militärs nicht wert gewesen, hätten die Wissenschaftler nicht ein Funksignal angemessen, das so regelmäßig und strukturiert gewesen war, das es von dem Meteor künstlich erzeugt werden musste und auf Intelligenz schließen ließ. Sofort und viel zu schnell, wie ich fand, sind einige Forscher auf den Gedanken gekommen, anorganisches Leben gefunden zu haben, was wiederum das Militär auf den Plan gerufen hatte.
   Hier stand ich also, nachdem nach dreimonatigen Fehlversuchen, etwas herauszufinden oder eine Art Kommunikation mit dem vermeintlichen Lebewesen zu starten, das Interesse verschwunden war. Ich hatte nie daran geglaubt, dass es funktionieren würde. Aber da gab es trotzdem einige Ungereimtheiten, wie zum Beispiel die Tatsache, dass beim Sturz durch die Atmosphäre kein Gramm Material verglüht war, oder die Herkunft dieses seltsamen Funksignals. Das alles hatte zuerst mein Interesse geweckt, obwohl ich nun meine Vermutung bestätigt sah, dass ich nichts weiter als einen besonders stabilen Klumpen kosmischen Drecks vor mir hatte.
   Ab morgen würde ich nun wieder meinen normalen Pflichten nachgehen können, und so fuhr ich nach Hause und legte mich schlafen.

*  *  *

Und dann, eines Tages, zwei Jahre nachdem meine geliebte Frau umgekommen war, nach zwei Jahren des Schmerzes und der Depressionen, geschah es. Ich hatte wieder mal einen dieser seltsamen Träume, in dem mich eine fremdartige Stimme rief. Ich befand mich in einem undurchdringlichen Nebel, in dem nichts anderes existierte als ich selbst und die Stimme, die meinen Namen rief. Doch diesmal war es anders. Diesmal lichtete sich der Nebel, und ich sah was nach mir rief. Es war der Meteor, an den ich in den vergangenen zehn Jahren kaum je gedacht hatte.
   Ich wachte schweißgebadet auf. Ich konnte mir nicht erklären, wie ein toter Felsbrocken nach mir rufen konnte, und wollte es als dummen Traum abtun. Doch es war mir nicht möglich, diese Stimme wieder zu vergessen.
   Ich hatte von nun an keine Ruhe mehr, bis ich mich entschloss, in meinen Wagen zu steigen und zur Einschlagstelle zu fahren. Obwohl ich wusste, das mein Verhalten dumm und unvernünftig war, konnte ich nicht widerstehen. Der Meteor war schon vor vielen Jahren als unbedenklich eingestuft worden und war jetzt ein Touristenmagnet. Es war völlig unmöglich dass der Fels der Urheber meines Traumes sein konnte, zumindest sagte mir das mein Verstand. Doch gleichzeitig fühlte ich mit einer Intensität, die ich bis zu diesem Moment nicht gekannt hatte, dass er lebte. Und ich fühlte auch, dass es der größte Fehler meines Lebens gewesen wäre, hätte ich diesen Eindruck ignoriert.
   Als ich dort ankam war es schon dunkel, und es schien, als habe sich in den vergangen zehn Jahren nichts verändert. Ich wollte schon wieder umkehren, als ich den Reflex des Mondlichtes auf der Meteoroberfläche sah. Ich betrat den gigantischen Krater und ging näher heran, um nachzusehen wodurch der Lichtstrahl zurückgeworfen wurde, als ich wie angewurzelt stehenblieb. In der Oberfläche des Felsens war eine Öffnung vorhanden. Sie konnte noch nicht lange da sein, sonst hätte sie vor mir schon jemand entdeckt.
   Ich dachte nach, was jetzt geschehen sollte. Das letzte, was ich tun wollte, war, den Meteor zu betreten. Doch da war wieder dieses Gefühl, und ich hatte den Eindruck als ob es, nun da ich näher an seinem Urheber war, langsam in Gewissheit umschlug; dieser bizarre Felsen war ein lebendes Wesen. Ich überwand also meine Furcht und durchschritt die Öffnung. Nachdem ich mich im Innern befand schaute ich mich vorsichtig um. Ich befand mich in einer kugelförmigen Höhle von etwa 50 Metern Durchmesser, und überall um mich herum ragten Kristalle von verschiedener Größe aus der Oberfläche, in allen nur möglichen Farben sanft strahlend. Ich drehte mich voller Bewunderung im Kreis, um alles zu sehen, und bemerkte plötzlich, dass die Öffnung verschwunden war. Ich war gefangen! Ich würde langsam ersticken!
   Voller Panik rannte ich zu der Stelle, von der ich glaubte dass die Öffnung dort gewesen war, und schlug mit der Taschenlampe, die ich mitgenommen hatte um den Weg zum Meteor zu finden, außer mir vor Angst auf die Kristalle ein, in der sinnlosen Hoffnung, eine Öffnung schaffen zu können.
   Kaum hatte ich damit begonnen, als ich nur noch sah wie energetische, gezackte Bahnen wie Blitze den ganzen Innenraum ausfüllten; dann versank ich in Dunkelheit und verlor das Bewusstsein.

*  *  *

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte bis ich langsam wieder erwachte. Doch im Halbschlaf, bevor mein Bewusstsein zurückkehrte, hörte ich wieder diese Stimme, die mich auch schon in meinen Träumen gerufen hatte, beruhigend zu mir sprechen. Gleichzeitig ging von ihr eine solch friedliche und wohlwollende Ausstrahlung aus, das jegliche Angst verflogen war, als ich langsam wieder aufwachte.
   Hab keine Angst, Danny Dawson. Dir wird nichts geschehen, du bist nicht gefangen. Du kannst jederzeit wieder gehen und mich verlassen. Es tut mir leid, dass ich dich so überraschend in den zeitlosen Schlaf versetzen musste, doch ich konnte nicht zulassen, dass du meine empfindliche innere Struktur verletzt.
   Es war, als ob diese Worte direkt in meinem Kopf entstünden, und doch wusste ich, dass sie von dem Wesen kamen, das mich umgab. Nachdem ich erst einmal minutenlang vor Staunen kein Wort herausbekam, schaffte ich es schließlich zu fragen: »Du warst es, der mich in meinen Träumen gerufen hat, nicht war?«
   Ja, Danny Dawson.
   »Was... was bist du?«
   Ich bin das Kind einer Sonne, und der Weltraum, wie du es nennst, ist meine Heimat. Doch höre nun genau zu, Danny Dawson. Ich werde dir berichten, woher ich komme und warum ich hier bin.
   Ich hörte nun Dinge, die so phantastisch und unglaublich schön, aber manchmal auch unglaublich traurig waren, wie ich sie mir nie vorzustellen gewagt hatte. Das Wesen erzählte mir von den Älteren wie sie es unterrichteten, von seinem Entschluss den Weltraum zu entdecken. Es berichtete von unglaublichen kosmischen Ereignissen und einer ganzen Zivilisation, die sich selbst vernichtet hatte. Nachdem es geendet hatte, ließ es mir Zeit, alles zu verarbeiten. In diesem Moment wurde mir klar, wie unglaublich weise, friedfertig und wissend dieses Wesen war. Und plötzlich erkannte ich, dass ich mich nicht mehr von ihm trennen wollte; denn seine unglaublich positive Ausstrahlung war so überwältigend, das mir alle meine alltäglichen Sorgen und der Kummer um meine Frau plötzlich überwindbar erschienen. Mir wurde bewusst, dass es für mich nur einen Weg gab wieder glücklich zu werden: wenn ich für immer bei diesem Wesen blieb.
   Überwältigt fragte ich: »Aber warum hast du gerade mich gerufen?«
   Du warst der Erste, dessen Gedanken ich bewusst wahrnehmen konnte, denn du warst oft körperlich und im Geist in meiner Nähe. Du musst wissen, das ich eine nach deinen Begriffen recht lange Zeit gebraucht habe, bis ich mich auf die Gehirne der Bewohner dieser Welt einstellen konnte. Noch länger hat es gedauert, bis ich mit dir kommunizieren und mich dir endgültig offenbaren konnte. In der ganzen Zeit, in der ich versucht habe dich über deine Träume zu rufen, um mit einer Lebensform dieser Welt zu kommunizieren, habe ich dein Schicksal verfolgt. Ich habe dein großes Glück gespürt, als du deinem seelenverwandten Wesen begegnet bist. Und dann spürte ich deinen großen Schmerz, als du es verloren hast.
   Danny Dawson, ich möcht dich wieder glücklich machen und deinem Leben einen Sinn geben. Ich frage dich, willst du mit mir den Weltenraum bereisen und seine Wunder sehen, seine Lebewesen besuchen?

   Ich zögerte keinen Moment mit der Antwort: »Natürlich! Es gibt nichts was mich hier noch hält. Ich wüßte nicht, was ich mir mehr wünschen könnte, als mit dir mitzukommen!«
   Dann, Danny Dawson, werde ich dich in den zeitlosen Schlaf versetzen. Habe keine Angst, es ist die einzige Möglichkeit für dich, die langen Reisen zu überstehen. Doch ich verspreche dir, an unserem Ziel wirst du Dinge sehen, deren Existenz du dir nicht mal erträumen könntest.
   »Warte noch. Hast du einen Namen?«
   Oh ja, Danny Dawson. Doch in deiner Sprache gibt es keine Möglichkeit, ihn irgendwie zu begreifen oder auszudrücken. Nenne mich statt dessen Äon 1254. Es beschreibt am besten, was ich bin.

*  *  *

Der Mensch beendet seine Erzählung, als die rotleuchtende Sonne langsam den Horizont überschreitet. Nach langem Schweigen, während dem das hochgewachsene, grüne Wesen das Gehörte verarbeitet, sagt der Mensch: »Nun weißt du also, mein Freund, wie es gekommen ist, dass ich meine eigene Welt verlassen habe und in den Weltraum aufgebrochen bin. Was ich auf meinen Reisen alles erlebt und gesehen habe, das ist jedoch eine andere Geschichte.«

 

 

Zum Schluss ein Dank an den geneigten Leser. Diese Geschichte ist mein »Erstlingswerk«, ich bitte daher eventuelle Ungereimtheiten zu übersehen.
Trotzdem bin ich sehr an deiner Meinung interessiert. Schreib mir doch deine Kritik oder vielleicht sogar Lob, denn nur durch Feedback macht das Schreiben wirklich Spaß.
Jetzt schon vielen Dank für allfällige Mails,
Marc Annaheim

 
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