Sonnenuntergang

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Kurzgeschichte
Niklaus Haldimann
Der Himmel hat eine satte dunkelblaue Farbe, wie er sie nur in großen Höhen annimmt. Nur ein paar Wölkchen, wie weiße Federn, bilden kleine Lücken im strahlenden Blau, ziehen träge ihre Bahn Richtung Horizont, vorangetrieben von einem kaum spürbaren Wind. Der Wind, nicht mehr als ein laues Lüftchen, kann nur unzureichend die fast unangenehme Wärme der Sonnenstrahlen mildern. Die Strahlen eines riesigen gelben Sonnenballs, der selbst das imposante Panorama der schneebedeckten Berge verblassen läßt.
Da, Geräusche! Solche, die nicht hier hingehören, nicht in diese traumhafte Berglandschaft. Mühsame, schleppende Schritte, gedämpft durch weiche Erde und spärliches Gras, und ab und zu das Rasseln eines Steines, der über harten Fels den Hang hinunter kullert. Und jetzt ist auch ein Keuchen zu hören, japsende Atemzüge, das Schweigen der Berge brechend.
Ein Kopf taucht auf, dann ein Oberkörper und dann die dazugehörigen Beine und Füße. Eine seltsame Gestalt, die sich hier auf den Gipfel hinauf gemüht hat. Sie bleibt - immer noch um Luft ringend - stehen und fährt sich mit dem Arm über die schweißnasse Stirn. Die Anstrengungen der letzten Minuten sind ihr anzusehen: die kurzen, braunen Haare glänzen von den feinen salzigen Tröpfchen, der schmutzig blaue Overall klebt am Körper und der Atem geht schwer. Doch der Mann gönnt sich keine lange Pause. Seine verkniffenen Augen schweifen suchend umher und bleiben an einer Gesteinsformation in der Mitte des kleinen Gipfelplateaus hängen. Kopfschüttelnd geht er darauf zu.
Das Licht der Sonne hat sich verändert; eine Nuance nur, von einem glänzenden fast weißlichen Gelb zu einem leicht orange angehauchten Goldgelb. Trotzdem bietet die Landschaft - verstärkt noch durch die länger werdenden Schatten - ein ganz anderes Bild. Die Berge scheinen näher gerückt, greifbarer, und ihre schneebedeckten Flanken glitzern leicht golden.
"Carl, komm hier herauf! Das mußt du dir ansehen!" Der Mann hat die Hände in die Taschen seines Overalls gesteckt und hält seinen Blick immer noch prüfend auf die vier Brocken gerichtet, die im Zentrum des Plateaus zu einem Haufen gestapelt sind.
"Bin gleich bei dir", schallt eine Stimme von irgendwo zum Gipfel hinauf, und schon ein wenig später sind wieder die typischen Geräusche zu hören, die ein wenig geübter Kletterer beim Erklimmen eines steilen Bergweges verursacht.
"In der Beschreibung stand doch, hier oben gäbe es eine 'bequeme Sitzgelegenheit', oder?" ruft der Mann auf dem Gipfel.
"Ja", erklingt es gepreßt zwischen zwei keuchenden Atemstößen.
Einen resignierenden Seufzer ausstoßend, setzt sich der Mann im blauen Overall auf einen der Steine. Er beobachtet, wie sein Kollege auf der Kuppe erscheint, Carl, ebenfalls in einem Overall, dieser aber grau.
"Nennst du das eine 'bequeme Sitzgelegenheit'?" fragt der Sitzende.
"Nein", antwortet Carl lakonisch und nimmt auf einem Stein Platz.
Die beiden Gestalten, die mit ihren verschmutzten Overalls so nicht in diese Umgebung passen, schweigen und hängen ihren Gedanken nach. Carl reist gedankenverloren einen Grashalm ab, schiebt ihn zwischen die Zähne und läßt ihn langsam von einem Mundwinkel in den anderen wandern. Beide scheinen völlig versunken in die Betrachtung der entrückten Bergwelt.
Auf der Höhe seines Glanzes ist das Gelb gekippt, ist zu einem schummrigen Orange geworden, das die schroffen Umrisse der Berge weich zeichnet. Die Sonne hat an Strahlungskraft verloren. Bald schon würden ihre ersten Teile hinter einer zerklüfteten Spitze verschwinden. Gleichzeitig würde das Orange des Himmels - mit der Zwischenstation "Pastellrot" - sanft übergehen in ein zartes und doch sattes Rosa, das später, nachdem sich die Sonne gänzlich hinter den Felsgiganten versteckt hat, langsam aber stetig verblassen würde. Normalerweise.
"Doch, es wirkt alles sehr echt." Der Mann im blauen Overall kommt mit einem Ruck auf die Beine und nähert sich der Kante des Plateaus. Er richtet seinen Blick nach unten. "Nur: Was passiert, wenn ich hier hinunterspringe?"
"Du spinnst, Bert!" entfährt es Carl. "Erstens geht das nicht, und das weißt du genau so gut wie ich, und zweitens: Wer sollte das schon tun?"
"Nun, warum nicht?" meint Bert trotzig und kehrt zum Steinhaufen zurück. Eine Weile steht er brütend da, während ihn sein sitzender Gefährte verständnislos anblickt.
"Der Grashalm!" ruft er plötzlich aus. Der Halm, der sich vorher in Carls Mund in steter Bewegung befunden hat, bleibt unvermittelt stecken. "Was passiert, wenn du ihn verschluckst?"
Vor Überraschung spuckt der Angesprochene den grünen Stengel aus. "Das geht natürlich auch nicht", erwidert er nun schon fast ärgerlich. "Ich kenne die exakte Programmierung nicht, aber ich nehme an, er hört auf zu existieren, sobald ich auch nur die geringsten Anstalten dazu mache."
"Er existiert ja sowieso nicht. Nicht wirklich", ergänzt Bert abwesend - er scheint mit den Gedanken schon wieder ganz woanders zu sein - und setzt sich wieder hin. Die beiden Overallträger hüllen sich wieder in Schweigen.
Die Szenerie hat sich abermals verändert - aber diesmal ist eine überraschende Wandlung eingetreten. Das Rund der Sonne ist nur noch ein Halbrund, halb versunken hinter einem Gipfel, und es strahlt in einer undefinierbaren Farbe irgendwo zwischen einem schmutzigen Gelb und einem hellen Grün. Die ausgefransten Wölkchen haben sich zu Wolken mit klar umrissenen Konturen aufgebauscht, und es ist ein scharfer Wind aufgekommen.
Bert erhebt sich und beschattet mit einer Hand die Augen, um besser sehen zu können. Zu Carl gewandt sagt er: "Ist das so vorgesehen, dieser grüne Sonnenuntergang?"
"Ich glaube nicht. Keine Spur von Romantik", gibt Carl zur Antwort und grinst. "So was gibt's auch gar nicht."
"Warum bist du dir da so sicher?"
"Nun, hast du schon jemals einen grünen Sonnenuntergang gesehen?"
"Nein."
"Na also", ruft Carl aus und lehnt sich zufrieden zurück.
Die Umgebung, getaucht in ein nun fast grell zu nennendes Hellgrün, macht nun einen seltsam unwirklichen Eindruck. Von der Sonne ist nur noch ein kleines Eckchen übrig.
Bert begibt sich wieder zur Kante des Plateaus. Der Overall knattert im Wind.
"Das hier", er breitet die Arme aus, als wolle er die weit entfernten Steinriesen umarmen, "ist völlig unmöglich. Perfekte Berge. Riesenhafte Wolken. Eine grüne Sonne. Trotzdem wirkt alles so realistisch."
"Bert, jetzt komm' mal 'runter vom hohen Ross. Du weißt genau, daß das hier künstlich ist, eine Täuschung, nichts als ein Abklatsch der Realität." Die letzten Worte hat Carl geschrien, um gegen das lauter werdende Tosen des Windes anzukommen.
"Was hast du gesagt?"
Bert scheint wie in Trance, scheint seinen Blick nicht mehr von den Wolkentürmen und der untergehenden Sonne lösen zu können. Die Berge sind vor dem grünen Hintergrund des Himmels kaum mehr erkennbar.
"Verdammt!" schreit Carl. "Holoprogramm abbrechen!"
Seine Stimme geht im Brausen und Rauschen unter. Der Wind weht ihm die Worte von den Lippen. Carl springt auf und fällt, von der Wucht des Sturmes getroffen, sofort wieder hin. Als er den Kopf hebt, steht Bert nicht mehr da, wo er vorher gestanden hatte; da sind nur noch grüne, wogende Wolken, eine grüne Hölle. Verzweifelt gräbt der liegende Carl seine Finger in die Erde, um dem Sog Richtung Abgrund standhalten zu können.
In diesem Moment verschwindet die Sonne vollends. Es wird schlagartig dunkler, alles liegt hinter einem dichten dunkelgrünen Schleier. Der Wind, eben noch wilder Drache, wird abrupt zu einem sanften Lämmchen. Er herrscht eine Totenstille, die Carl noch mehr um den Verstand bringt als der unerträgliche Lärm vorhin.
Er robbt mühsam auf dem Bauch zum Abgrund, er schiebt seinen Kopf über die Kante. Durch seine tränenden Augen sieht er weit unten Bert in einer unnatürlich verdrehten Haltung liegen. Er formt mit den Händen einen Trichter und ruft mit überschlagender Stimme: "Bert!"
Sein Ruf eilt hinüber zu den Bergen, prallt ab und kommt wieder zurück. "Bert", höhnen die Berge. Carl rappelt sich auf, geht schwankend zurück zum Steinhaufen, fährt sich durch das zerzauste Haar, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Langsam bückt er sich nieder, bis er mit seinem Mund das Gras berührt, beißt ab und kaut. Ein bitterer Geschmack breitet sich auf seiner Zunge aus und läßt ihn erschauern. Er schluckt. Der bittere Geschmack rutscht seinen Hals hinunter.
"Holoprogramm abbrechen", will er sagen, aber er bringt nichts als ein kümmerliches Krächzen über die Lippen.

 
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